Regierungsbeschlüsse zu Corona Welcher Wert jetzt wichtig wird

Die beschlossenen Lockerungen des Shutdowns sind ein Kompromiss - auch wissenschaftlich. Welche Forscher die Entscheidungen beeinflusst haben und auf welche Zahlen es nun ankommt.
Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Dresden testen medizinisches Personal auf das Coronavirus

Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Dresden testen medizinisches Personal auf das Coronavirus

Foto: Sebastian Kahnert/ dpa

Eine Lockerung in Trippelschritten, aber nicht die Rückkehr zur Normalität: Am Mittwochabend einigten sich Bund und Länder auf einen gemeinsamen Fahrplan, den die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten nun passgenau für ihre Länder umsetzen. Vor der Entscheidung kursierten etliche Stellungnahmen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, die Wege aus der Lockerung skizzierten. Nun zeigte sich, welche Experten bei der Entscheidung über Lockerungen besonders Gehör fanden.

"Es ist ein zerbrechlicher Zwischenerfolg", sagte Angela Merkel gleich am Anfang der Pressekonferenz am Mittwochabend. "Das hat uns Herr Wieler heute auch noch mal gesagt." Bis vor einigen Monaten hätten nur wenige gewusst, wer damit gemeint ist. Inzwischen kennt wohl jeder den Namen des Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI). Auch Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), selbst Arzt, bezog sich in der Pressekonferenz mehrmals auf das RKI.

Seit Wochen begleitet Lothar Wieler die Bundesrepublik durch die Krise, sein Team arbeitet rund um die Uhr. Wieler scheint wie geschaffen für den Job, der studierte Tierarzt forscht sei Langem an Erregern, die vom Tier auf den Menschen überspringen können. Er sucht jedoch kaum die öffentliche Aufmerksamkeit und verzichtet beispielsweise auf einen eigenen Podcast wie ihn inzwischen fast jeder prominente Virologe aufgelegt hat, der sich in der Coronakrise zu Wort meldet.

Weil Wieler nur wenige Interviews gibt, ist kaum etwas über ihn bekannt. Seine Auftritte beschränken sich meist auf die Pressekonferenzen des RKI, die inzwischen nur noch alle paar Tage stattfinden, auch in der Bundespressekonferenz ist er häufig zu Gast.

Dass dem RKI in der aktuellen Krise eine besondere Bedeutung zukommt, ist keine Überraschung: Die Bundesbehörde für Infektionskrankheiten war 1891 eigens für die Erforschung von Infektionskrankheiten gegründet worden und ist direkt dem Gesundheitsministerium unterstellt.

In dem nun veröffentlichten Beschluss zwischen Bund und Ländern wird das RKI an drei Stellen genannt, beispielsweise bei den Empfehlungen für das Tragen von Alltagsmasken, die das Infektionsrisiko überall da senken könnten, wo der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Das RKI hatte sich jedoch lange schwer mit dieser Empfehlung getan (mehr dazu lesen Sie hier .) 

Die Experten der Deutschen Wissenschaftsakademie Leopoldina hatten sich dagegen in ihrem aktuellen Thesenpapier für eine Mundschutzpflicht ausgesprochen. Besonders darüber soll in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern gestritten worden sein. Die nun getroffene Entscheidung entspricht eher dem Weg des Robert Koch-Instituts, das einfache Masken inzwischen für sinnvoll hält, aber Abstandsregeln für effektiver.

Welcher Wert jetzt wichtig wird

Merkel betonte am Mittwochabend mehrfach, dass es für Lockerungen nur einen sehr kleinen Spielraum gibt und begründete das vor allem mit der Reproduktionsrate. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Patient im Schnitt ansteckt. Liegt der Wert über 1, breitet sich das Virus aus, liegt er darunter, stirbt die Erkrankung aus. (Warum die bisher viel zitierte Verdopplungszeit dagegen nun weniger aussagekräftig ist, lesen Sie hier).

"Wir müssen die Reproduktionsrate unter 1 drücken", betonte Wieler in den vergangenen Wochen mehrfach. Anfang März lag der Faktor noch bei 3, mittlerweile hat er sich bei einem Wert um 1 stabilisiert, ist aber noch nicht bundesweit unter 1 gesunken. Laut RKI schwankt er derzeit zwischen 0,8 und 1,1. Ende März stieg er sogar an, vermutlich, weil das Virus sich zuletzt in Alten- und Pflegeheimen ausgebreitet hatte, wo sich besonders viele Menschen anstecken.

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Laut Berechnungen des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig wäre ein Wert um 1 für das Gesundheitssystem gerade noch so verkraftbar. Stecke jedoch jeder positiv Getestete wieder so viele Menschen an wie noch vor einer Woche, läge die Zahl der Intensivpatienten innerhalb weniger Monate in den Hunderttausenden - das Gesundheitssystem wäre komplett überfordert.

Auch Kanzlerin Merkel machte am Mittwochabend diese Rechnung auf: Steigt der Reproduktionsfaktor nur leicht auf einen Mittelwert von 1,1 wäre das Gesundheitssystem im Oktober an der Leistungsfähigkeit angekommen. Steigt er auf 1,2 wäre es schon im Juli so weit und bei einem Wert von 1,3 schon im Juni.

Eine Überforderung des Gesundheitssystems wäre fatal. Denn wenn nicht mehr genügend Beatmungsplätze zur Verfügung stehen, müssen Ärzte entscheiden , wer eine Behandlung bekommt - und wer nicht. Die Zahl der Todesfälle würde wie in Italien, Spanien und den USA in die Höhe schnellen.

"Epidemiologisch gesehen ist jede Lockerung falsch"

Es würden auch sehr wahrscheinlich Patienten sterben, die mit Beatmung gute Überlebenschancen gehabt hätten. Die Fallzahlen aus anderen Ländern zeigen, dass längst nicht nur 80-Jährige an der Infektion sterben.

"Epidemiologisch gesehen ist jede Lockerung falsch", mahnte Michael Meyer-Hermann, Physiker am HZI im Interview mit dem ZDF und stellt sich gegen die Annahme der Regierung, eine Koexistenz mit dem Virus sei der einzige Weg, bis es einen Impfstoff gibt.

"Ich hätte es bevorzugt, wenn wir versucht hätten, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine wirkliche totale Bremse zu ziehen, damit wir in einer absehbaren Zeit zu einer großen Normalität zurückkehren können", so Meyer-Hermann. Der aktuell eingeschlagene Weg werde wahrscheinlich sehr lange dauern. Bei einer Reproduktionsrate von 1 hätten sich in einem Jahr gerade einmal eine Million Menschen mit dem Coronavirus infiziert und wären immun. Zudem sei noch nicht klar, wie lange die Immunität anhalten wird.

Ob die beschlossenen Lockerungen zu früh kamen, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es von der Wissenschaft zu viel verlangt, genau vorherzusagen, welche Lockerungen vertretbar sind, bis das Gesundheitssystem überfordert ist. Dafür gibt es noch zu viele Unbekannte in der Gleichung.

Unklar ist beispielsweise, wie viele Menschen sich bereits angesteckt haben, ohne es zu bemerken und ob es gelingt, wirklich alle aufzuspüren, die das Virus in sich tragen und sie zu isolieren, inklusive ihrer persönlichen Kontakte. Groß angelegte Studien mit Antikörpertests, der Ausbau der Testkapazitäten und Corona-Apps sollen in den kommenden Wochen Klarheit bringen.

Bis dahin bleibt nur Fahren auf Sicht. Bund und Länder wollen zukünftig etwa alle zwei Wochen taktieren, ob weitere Lockerungen möglich sind oder diese zurückgedreht werden müssen. 

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