Seuchen Warum Viren und Bakterien so mächtig sind

Es begann im Stillen in der südchinesischen Provinz Guandong: Im November 2002 springt ein Erreger von Mensch zu Mensch und löst in seinen Wirten eine seltsame Krankheit aus. Diejenigen, die er infiziert, leiden kurze Zeit später an einer schweren Lungenentzündung - allerdings mit ungewöhnlichen Symptomen. Viele der Infizierten sterben. Die Weltöffentlichkeit aber nimmt noch keine Notiz davon.
Wenige Monate später, im Februar 2003, ändert sich die Situation: Die ersten Wirte, die den bis dahin unbekannten Erreger tragen, verreisen mit dem Flieger. Einer von ihnen ist ein 64-jähriger Arzt, der einige Patienten mit Lungenerkrankungen in einem Krankenhaus in der südchinesischen Hauptstadt Guangzhou behandelt hatte. Er fliegt nach Hongkong und wohnt zwei Nächte lang in einem Hotel in Kowloon. Danach wird er in ein Krankenhaus eingeliefert, denn auch er leidet plötzlich an einer schweren und ungewöhnlichen Lungenerkrankung. Zehn Tage später ist er tot.
Zuvor steckte er einen weiteren Hotelgast an, einen 23-jährigen Geschäftsmann. Dieser, so finden Mediziner später heraus, ist der Indexpatient Hongkongs: Er ist diejenige Person, von der der Ausbruch der Lungenkrankheit - das Schwere akute respiratorische Syndrom - in Hongkong ihren Ursprung nimmt. Mehr als hundert Personen steckt der 23-Jährige an. Gleichzeitig tauchen in Kanada, Singapur und Vietnam die ersten Fälle der mysteriösen Lungenentzündung auf - am 12. März schlägt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) globalen Alarm. Nur wenige Tage später erscheinen weltweit die ersten Meldungen.
Medienberichte über "Killer-Erreger" und "Horror-Virus"
Am 16. März 2003 titelten einige Tageszeitungen: "Arzt schleppt todbringende Krankheit bis Deutschland", einen Tag später schon lauten die Schlagzeilen etwa "Lungen-Virus bedroht die Welt". Zahlreiche Medien ziehen im gleichen Stil mit - es ist die Rede von einem "Killer-Erreger", dem "Horror-Virus", von einer "mysteriösen Epidemie" und der "tödlichen Lungenseuche". Immer mehr Meldungen über Sars finden ihren Weg in die Nachrichtenkanäle.
Aber nicht nur die Medien und die breite Öffentlichkeit reagieren auf die neue Bedrohung. Die Ausbreitung des zieht einen ganzen Rattenschwanz an behördlichen und institutionellen Maßnahmen hinter sich her. Bis zum 2. April sind 2223 Erkrankungsfälle aus 17 Ländern, darunter 78 Todesfälle, bei der WHO gemeldet. Doch weil es weder eine Impfung gegen das Sars-Virus noch ein Medikament gegen die Lungenerkrankung gibt, beginnen Gesundheitsbehörden rund um den Globus, darunter das Centers for Disease Control (CDC) in den USA sowie das deutsche Robert-Koch-Institut, Warnungen auszusprechen.
Es wird davon abgeraten, nach Hongkong oder in die chinesische Provinz Guandong zu reisen. Quarantänemaßnahmen an den Flughäfen betroffener Städte werden eingeführt. Passagiere müssen lästige Gesundheitsfragebögen ausfüllen oder werden im Vorbeigehen durch die Sicherheitsschleusen von Wärmebildkameras beobachtet. Diejenigen mit Fieber werden zur Untersuchung ins Krankenhaus geschickt.
Dramatische Folgen für die Wirtschaft
Doch das sind längst nicht alle Folgen: 2003 steckt die Luftfahrt in der schwersten Krise ihrer bisherigen Geschichte. Nicht nur Terror, Irak-Krieg und Wirtschaftsflaute haben ihr zugesetzt, auch die Panik vor der hinterlässt tiefe Spuren in Form von dramatischen Umsatzeinbrüchen im internationalen Flugverkehr - Wirtschaftsmedien berichten teilweise von bis zu 45 Prozent. Betroffen sind vor allem jene Airlines, die ihre Basis in den Seuchengebieten haben. Aber auch Fluggesellschaften wie etwa Singapore Airlines geraten in das Mahlwerk der Seuchenangst, obwohl die WHO zu keinem Zeitpunkt eine Reisewarnung für das Ziel ausgegeben hat.
Doch so schnell wie der ganze Sars-Spuk kam, so schnell war er auch wieder vorbei. Schon kurze Zeit nach dem Ausbruch, im Juli 2003, gilt die Seuche offiziell als erloschen - und die Welt hat wieder andere Sorgen.
Reaktionen auf Seuchenausbrüche sind so vielfältig wie die Erreger selbst
Die Geschichte von Sars ist bei weitem nicht die einzige dieser Art. Seit dem Jahr 2000 sah sich die Welt gleich mit vier unheimlichen Infektionskrankheiten konfrontiert: Im Jahr 2001 erreicht die -Krise in Deutschland ihren Höhepunkt, 2003 kommt Sars, 2004/2005 die , 2009 die . Jedes Mal tauchen die Erreger scheinbar aus dem Nichts auf und verbreiten sich weltweit. Die Medien greifen das Thema auf, schnell erfährt man aus Zeitungen, Radio und Fernsehen von den ersten Erkrankungsfällen, die Berichterstattung sorgt für großes Aufsehen. Die Verbreitung von Informationen über das Internet, dem neuen Nachrichtenmedium der Dekade, tut ihr Übriges: Vielerorts reagieren Menschen verunsichert und werden in Angst versetzt.
Die Angst vor der Seuche entwickelt eine höchst emotionale Kraft mit ungeahnten ökonomischen wie politischen Konsequenzen - um dann wieder still und leise aus dem Bewusstsein der Menschen zu entschwinden. Was aber sind die Lehren, die sich aus den Erfahrungen mit den Seuchen ziehen lassen? Alles nur viel Lärm um nichts? Oder gehören Seuchenängste zu den Urängsten der Menschheit, die sich nicht ausblenden lassen?
Ein Vergleich mit Seuchen aus früherer Zeit, wie etwa der Spanischen Grippe um 1918, ist schwer. Zum einen fehlt es an Informationen über Pandemien aus der Vergangenheit, zum anderen ist deren Interpretation oft nicht leicht. Erst kürzlich analysierten Forscher historische Berichte über die Spanische Grippe und kamen zu dem Schluss, dass sich die Ursache einer Pandemie nicht auf einen einfachen Nenner - den Erreger - bringen lässt.
Heute greift die Panik um sich, bevor die Seuche überhaupt angekommen ist
Seuchen und Seuchenängste stellen immer eine enorme Herausforderung für die Behörden dar. Im Zeitalter der globalen Informationvernetzung ist es ihnen so gut wie unmöglich, der Bevölkerung das wahre Ausmaß einer Seuche vorzuenthalten. Während die Spanische Grippe in Deutschland offiziell lange Zeit nicht stattfand, obwohl ihr schon Tausende von Menschen zum Opfer gefallen waren, greift heutzutage die Angst vor einer Seuche schon um sich, bevor sie überhaupt angekommen ist.
Aufgabe der Gesundheitsbehörden ist es, bei einem Ausbruch einer Seuchenkrankheit rasch und entschlossen zu reagieren und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung unter Kontrolle zu halten. Deshalb wurden im vergangenen Jahrzehnt, nachdem die WHO weltweit dazu aufgerufen hatte, in vielen Ländern Pandemiepläne ins Leben gerufen. Die ersten, teilweise noch etwas zaghaften Teile des deutschen Pandemieplans wurden im März 2005 veröffentlicht - als die Vogelgrippe die Runde machte und die Sorge herrschte, dass das H5N1-Virus von Geflügel auf den Menschen überspringen könnte.
Pandemiepläne: Für den Ernstfall gewappnet?
Aber es sollte nicht lange dauern, bis ernste Zweifel an einem Erfolg eines solchen Plans für den Krisenfall lautwurden. Die große Frage, die sich viele stellten, lautete: Sind wir gegen eine Pandemie wirklich gewappnet?
Aus heutiger Sicht - nach Ausbreitung der Schweinegrippe - fallen die Antworten darauf anders aus als etwa zur Zeit der Vogelgrippe. Damals kreisten die Diskussionen vor allem um die schnelle Entwicklung eines passenden Impfstoffs gegen den Influenza-Typ H5N1. Ein Impfstoff für den Menschen kann aber erst dann hergestellt werden, wenn der Erreger der Pandemie feststeht. Da sich das H5N1-Virus seinerzeit zunächst nur unter Vögeln ausbreitete, konnte nur ein Vakzin für Tiere, nicht aber für den Menschen entwickelt werden. Die zweite Maßnahme gegen die scheinbar drohende H5N1-Pandemie sah vor, das antivirale Medikament Tamiflu auf Vorrat einzulagern. Auch daran entzündete sich eine heftige Diskussion.
Manchen Klinikchefs war die nationale Vorsorge längst nicht genug. Sie zweifelten daran, dass die von Bund und Ländern zugesicherten Tamiflu-Vorräte im Ernstfall überhaupt ausreichen würden und suchten andere Wege, sich mit genügend Grippemedikamenten und Hygieneartikeln wie Atemschutzmasken einzudecken. Wissenschaftler äußerten Bedenken, dass Tamiflu nicht nur rar und teuer sei, sondern dass eine Tamiflu-Prophylaxe im Ernstfall gar nicht vor der Erkrankung schützen würde. Schon damals warnten Experten davor, dass Influenza-Viren Resistenzen gegen antivirale Medikamente entwickeln können.
Außerdem stellten viele in Frage, ob das H5N1-Geflügelvirus überhaupt in der Lage ist, auf den Menschen überzuspringen. Dagegen argumentieren Forscher immer wieder damit, dass Influenzaviren sich durch Mutationen fortlaufend ändern und sich völlig neue Stämme bilden können, wenn ein Austausch genetischen Materials zwischen verschiedenen Stämmen erfolgt. Diese Eigenschaft fürchten Wissenschaftler besonders, denn so können Erreger entstehen, die besonders ansteckend oder auch zu besonders schweren Krankheitsverläufen führen können.
Kritik an Vorkehrungen gegen Seuchen kommt aus allen Richtungen
Im Falle der Schweinegrippe kehrte sich die gesundheitspolitische Diskussion jedoch schnell in eine andere Richtung: Nicht die Angst vor einer möglichen Unterversorgung im Ernstfall dominierte. Schließlich war der H1N1-Erreger schnell identifiziert, und die Pharmaindustrie machte sich sofort an das große und enorm lukrative Geschäft: die Entwicklung des passenden Impfstoffs. Die Kritik an Bund und Behörden, den Kauf von Millionen von Impfdosen vertraglich zugesichert zu haben, schwelt auch heute nach dem Abflauen der ersten Schweinegrippewelle noch ebenso wie die Diskussionen um die umstrittenen Wirkverstärker im Impfstoff Pandemrix, den sogenannten Adjuvanzien. Und die Pharmaindustrie wird von einer nicht gerade kleinen Zahl von Menschen gar als Sieger der ganzen Schweinegrippehysterie ausgemacht, denn der Verkauf der Impfstoffe bedeutet für die Hersteller Umsätze in Millionenhöhe.
Inzwischen aber ist auch klar, dass im Fall der Schweinegrippe weder die Rechnung der Regierung noch die der Pharmakonzerne ganz aufgegangen sein könnte. Weil den Länder droht, auf Millionen von Impfdosen des bestellten Wirkstoffs Pandemrix sitzenzubleiben, planen sie jetzt, die Hälfte der 50 Millionen Dosen wieder abzubestellen. Die Impfmüdigkeit der Bevölkerung sowie die Tatsache, dass die Schweinegrippe wesentlich milder verläuft als abzusehen war und die erste Welle bereits wieder abflaut, sind ebenfalls Faktoren, die bei der Bekämpfung einer Seuche eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.
Ganz gleich, von welcher Seite man die Dinge betrachten mag, fest steht, dass Viren und andere Erreger von Infektionskrankheiten ungeheure und ungeahnte Folgen verursachen können. Im vergangenen Jahrzehnt hatten wir es mit einer schieren Palette an Folgen der Seuchen zu tun: Massentötungen von Tieren, Stallpflicht für Hühner, Quarantänemaßnahmen an Flughäfen zur Verhinderung der Ausbreitung, wirtschaftliche Katastrophen für große Zweige wie die Fleisch- oder Flugindustrie, aufwendige und enorm kostspielige Massenimpfungen in unzähligen Ländern.
Wir hatten es auch mit einer neuen Form der Informationsverbreitung zu tun: Das Internet hat Nachrichtenflüsse schneller den je gemacht - und damit auch das Wissen rund um Infektionskrankheiten.
Schätzungen der WHO zufolge sterben jährlich 5,5 Millionen Menschen an Aids, ausgelöst durch das HI-Virus. An Tuberkulose sterben jedes Jahr weltweit 1,6 Millionen, an Malaria etwa eine Millionen und an Masern 800.000 Menschen. Vor allem in Entwicklungsländern sind Krankheiten wie Tuberkulose und Aids ein enormes Problem. Dagegen sind die Zahlen der Schweinegrippe-Pandemie verschwindend gering: Nach Angaben der WHO starben bisher etwa 4100 Patienten durch das H1N1-Virus.
"Viren sind unsere einzigen Rivalen um die Herrschaft über den Planeten"
Die Konsequenzen einer Seuche sind so verschieden und vielfältig wie die Erreger selbst, deren größtes Gefahrenpotential aber nach wie vor darin besteht, dass manche von ihnen enorm anpassungs- und wandlungsfähig sind.
Unzählige Mikrobiologen weltweit wissen um die Mutationsfähigkeit der für das bloße Auge unsichtbaren Mikroben. Der andauernde Kampf der Wissenschaft gegen Krankheiten wie Aids, Tuberkulose, Malaria oder die immer wiederkehrende saisonale Grippe, die jährlich Tausende und Abertausende von Menschen töten, hat die Forscher gelehrt, dass der Mensch keinesfalls auf jeden Erreger eine effektive Antwort parat hat.
"Viren sind unsere einzigen wahren Rivalen um die Herrschaft über den Planeten" sagte einst der 2008 verstorbene US-Mikrobiologe und Nobelpreisträger Joshua Lederberg, der 1958 den Nobelpreis für die Erforschung des Erbguts von Bakterien erhielt.
"Unsere Beziehung zu krankmachenden Mikroben ist Teil eines evolutionsbiologischen Dramas", sagte Lederberg. "Und es gibt keine Garantie, dass wir in diesem Kampf die Überlebenden sind." Und so werden die Reaktionen auf neue Seuchenausbrüche vermutlich immer zwischen den Extremen Hysterie, Verharmlosung oder dem Glauben an eine Verschwörung schwanken.