
Fotostrecke: Moskaus makabrer Gehirnkult
Skurrile Pilgerstätte des Wissens Das Pantheon der Gehirne
Im Herbst 1927 wurde das Institut für Hirnforschung in Moskau feierlich eröffnet und zunächst von dem deutschen Neuroanatomen Oskar Vogt geleitet. Es diente ursprünglich der Untersuchung von Lenins Gehirn, doch die Ambitionen reichten weiter. Es ging um die Erforschung sogenannter Elitegehirne, getreu der vor allem von entwickelten Vision vom neuen kommunistischen Menschen, der zu einem "höheren gesellschaftlich-biologischen Typus", zum "Übermenschen" gezüchtet werden sollte, so dass sich der "durchschnittliche Menschentyp bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben" wird. Trotzki phantasierte sich diese wissenschaftliche Praxis als Konglomerat aus Reflexphysiologie, Psychoanalyse und Psychotechnik zurecht, doch zumindest für einige Jahre bildeten Züchtungsideen den biopolitischen Nerv der kommunistischen Utopie.
Hagiografie und Biopolitik - um diese Verbindung ging es im Moskau der späten zwanziger Jahre, und das sollte zu einer der bizarrsten Erscheinungen in der Geschichte der überhaupt führen, dem sogenannten Pantheon der Gehirne. Der Begriff Pantheon brachte die Absichten auf den Punkt: einerseits säkularer Gedächtnisraum, der ähnlich wie das in der Nachbarschaft gelegene -Mausoleum die Massen anziehen sollte, andererseits ein durch und durch wissenschaftlicher Ort, der die Hirnforschung als Leitwissenschaft der sowjetischen Gesellschaftsutopie repräsentierte. Wenn der Besucher im einen Raum den Gipsabdruck des Gehirns von Lenin bewunderte, konnte er sicher sein, dass ein paar Räume weiter das echte Gehirn Scheibchen für Scheibchen anatomisch untersucht wurde.
Die Idee, ein öffentliches Pantheon einzurichten, stammte von Wladimir Bechterew, der schon lange vor der Oktoberrevolution zu den renommiertesten europäischen Hirnforschern zählte. Auch er interessierte sich für die Gehirne bedeutender Männer: Bereits 1909 hatte er eine Untersuchung des Gehirns von Dimitrij Mendelejew vorgelegt, in der er dem berühmten Chemiker eine "Luxusausstattung der Hirnwindungen" attestierte. Die Verbindung von Elitehirnforschung und Gehirnpolitik gab es also schon vor der Oktoberrevolution, doch erst mit den neuen politischen Verhältnissen schien auch für einen älteren Hirnforscher wie Bechterew die Zeit gekommen, seine Ideen im großen Stil umzusetzen.
Bechterew diagnostizierte eine Paranoia bei
Das Pantheon der Gehirne sollte das Pariser Panthéon übertreffen, ohne es zu imitieren, denn es ging darum, in diesem Raum die wissenschaftliche Forschung als Emblem für die Überlegenheit des Sozialismus sinnfällig zu machen. Gegenüber dem Lenin-Mausoleum, das ganz dem Kult gewidmet war, schien das Pantheon sogar einen Vorteil zu haben. Es vermochte nämlich zu suggerieren, dass die bolschewistischen Revolutionäre auch nach ihrem Tod für die Wissenschaft und die Fortsetzung des Klassenkampfes nicht verloren waren, indem der kostbarste Teil ihres Körpers als öffentlicher Gegenstand weiterlebte.
Bechterew verstarb 1927 überraschend unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen. Er hielt sich zu einem Kongress in Moskau auf und wurde auf Stalins Wunsch in den Kreml zitiert, um den künftigen Alleinherrscher ärztlich zu untersuchen. Bechterew diagnostizierte eine Paranoia, die er unvorsichtigerweise Stalins Leibarzt mitteilte. Eine Woche später lebte er nicht mehr, angeblich einer Lebensmittelvergiftung bei einem Abendessen in Moskau erlegen. Stalins Rache fand seine sarkastische neurologische Pointe darin, dass Bechterews Gehirn gar nicht erst die Rückreise nach Leningrad antrat, wo er jahrzehntelang gelebt hatte, sondern gleich in das Moskauer Hirnforschungsinstitut eingegliedert wurde.
Seitdem waren Hirnforscher und Parteibonzen im Verbund wenig zimperlich, wenn es um die Sicherstellung von Elitegehirnen ging. Als Wladimir Majakowski 1930 Selbstmord beging, wurde sein Gehirn in einer geheimdienstlich anmutenden Blitzaktion und zum Entsetzen der Angehörigen noch auf dem Totenbett aus dem Schädel entnommen, bevor dann die sterblichen Überreste zur Beerdigung überstellt werden konnten.
Einzigartiges Golgatha der russischen Geschichte
Im November 1929 wurde das "Pantheon des Staatsinstituts für Hirnforschung" eröffnet. Oskar Vogt hielt einen Festvortrag, in dem er den berühmt-berüchtigten Begriff von Lenin als "Assoziationsathlet" prägte. Vogts cerebrale Hagiografie rief ebenso wie das Pantheon ein internationales Medienecho hervor. Der Korrespondent der "Düsseldorfer Nachrichten" beschrieb es folgendermaßen: "Die dreizehn Gehirne stehen in dreizehn Glaskassetten längs einer Wand in einem großen Raum, vielleicht war es einmal der Ballsaal, zur Zeit nämlich, als dieser Palast noch einem reichen Moskauer Kaufmann gehörte. Über jeder Glaskassette steht der Name des Mannes, dessen Kopf das im Schranke gehaltene Gehirn entnommen wurde, und einige Aufzeichnungen über seine Laufbahn; in einigen Fällen auch Lichtbilder des Mannes; ferner vergrößerte Photos verschiedener Querschnitte der hier aufbewahrten grauen Hirnsubstanz. Die Glaskassetten stehen auf Holzbehältern, die einige Werke des Mannes, Zeitungsausschnitte über ihn, Fotografien aus verschiedenen Lebensaltern, ärztliche Befunde, Krankheitsgeschichten usw. enthalten." Die 13 Gehirne hatte Vogt in seinem Vortrag namentlich erwähnt. Neben dem Gehirn Lenins umfasste die Sammlung zu jenem Zeitpunkt mehrere Gehirne von Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern.
Verdiente Parteimitglieder wurden zu Unpersonen erklärt
Natürlich enthielten die Glaskassetten nur Nachbildungen der Gehirne, da diese einige Räume weiter anatomisch untersucht wurden. Aber auch so wurde der Zusammenhang von Zerebralität und Genialität offensichtlich. Lenins Gehirn war die Hauptattraktion, aber im Prinzip war das Pantheon als ein Weiheort auch der damals noch lebenden Revolutionäre angelegt, denn etliche Kassetten waren noch leer und warteten darauf, gefüllt zu werden. Die Absurdität dieser leeren Kassetten hätte sich einige Jahre später erwiesen, als Stalin sich in den berüchtigten Schauprozessen zahlreicher Genossen der Revolution entledigte. Verdiente Parteimitglieder wurden zu Unpersonen erklärt, hingerichtet und aus dem Gedächtnis der sowjetischen Ruhmesgeschichte gelöscht. Allerdings kamen die Moskauer Hirnforscher gar nicht mehr in die prekäre Situation, entscheiden zu müssen, wer im Gehirn-Pantheon ausgestellt wird und wer nicht. Irgendwann um das Jahr 1930, nur wenige Monate nach seiner glanzvollen Eröffnung, wurde es wieder geschlossen.
Die Gründe für die Schließung lassen sich nach bisherigem Kenntnisstand nicht rekonstruieren, doch liegen die Motive auch ohne Archivdokumente auf der Hand. Erstens konzentrierte Stalin nach seiner endgültigen Machtergreifung den Personenkult ausschließlich auf Lenin und auf sich selbst. Ein Gedächtnisraum für ein ganzes Kollektiv von Bolschewisten hätte dieses Vorhaben schlicht unterlaufen. Zweitens spielte die Eugenik nach 1930 keine Rolle mehr in der . Das Gehirn adressierte den Menschen vorrangig als biologisches und erst in zweiter Linie als soziales Wesen, während es Stalin radikaler als den Bolschewisten der zwanziger Jahre darum ging, das Biologische sozial zu überformen. Drittens entwickelte sich das Hirnforschungsinstitut zunehmend zu einem Ort, der nicht nur die Gehirne der künstlerischen, politischen und wissenschaftlichen Prominenz, sondern auch einige der Außenseiter und Ausgestoßenen versammelte.
Im Lauf der Zeit ist das Institut zu einem einzigartigen Golgatha der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden. Neben den schon genannten Persönlichkeiten befinden sich dort die Gehirne des Symbolisten Andrei Belyj (das auf Intervention von Boris Pasternak dorthin gekommen ist), von , Konstantin Stanislawski, Sergej Eisenstein, Iwan Pawlow und Clara Zetkin, von Stalin und sogar noch von dem 1989 verstorbenen Atomphysiker und Dissidenten Andrej . Auch die Forschungen wurden fortgeführt, die Untersuchung von Lenins Gehirn 1936 sogar zu einem vorläufigen Abschluss gebracht.
Nachdem das Gehirn als Propagandainstrument für den Kommunismus ausgedient hatte, wurde auch das Pantheon einer für Diktaturen nicht untypischen Dialektik unterworfen: zuerst Kultraum, der im Licht der Öffentlichkeit stand, wurde es fortan zur Geheimsache erklärt, und man tat so, als habe es diesen Ort nie gegeben. Verfügten wir nicht über die Augenzeugenberichte aus dem Jahre 1929, so gäbe es keinen Beweis für die Existenz des Pantheons. Nicht einmal eine Fotografie dieses Raums ist bekannt.
An der Zugeknöpftheit des Moskauer Hirnforschungsinstituts bezüglich seiner Vergangenheit hat sich bis heute nichts geändert. Mit einer Ausnahme: in den unübersichtlichen Monaten des Zusammenbruchs der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre gelang es einem Filmteam, Zugang zum Hirnforschungsinstitut zu erhalten. Vom ehemaligen Pantheon ist in diesem Film nichts zu sehen, wohl aber wird Einblick in den Raum 19 gewährt, in dem die Elitegehirne lagern. Ein Blick ins Regal zeigt die überall auf der Welt gleich aussehenden Glasgefäße, in denen die Gehirne schwimmen. Eine technische Assistentin hält den Gipsabguss des Leninschen Gehirns so vor die Linse, dass man nur die intakte Hirnhälfte sieht. Auch 1991 war der zermatschte Teil des Gehirns nicht öffentlich vorzeigbar.
Als die Mitarbeiterin das Stalinsche Gehirn präsentiert, wird der Reporter etwas unruhig, denn dieses Gehirn war für den Mord an seinem Vater verantwortlich. Spätestens in diesem Moment wird deutlich, dass das Moskauer Pantheon zu den eher unheimlichen Pilgerstätten des Wissens gehört und dass es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis es wieder zum Gegenstand des öffentlichen Gedächtnisses wird.