Studie zum Coronavirus Risikofaktor Familie

Ein kleiner Junge hat sich zum Spiel eine Salatschüssel über den Kopf gezogen
Foto: CAITLIN OCHS/ REUTERSDraußen ist Abstand halten angesagt, drinnen ist das kaum einzuhalten, zumindest in Familien. Man kocht und isst gemeinsam, Eltern spielen mit den Kindern, Babys werden gewickelt, Geschwister raufen untereinander, Partner küssen und lieben sich. Die Mitglieder einer Familie haben viel direkten Kontakt, auch in Zeiten der Coronakrise. Nähe, auch körperliche, ist schließlich ein menschliches Grundbedürfnis.
Das Sars-CoV-2-Virus sollte es da einfach haben, könnte man meinen. Ist erst einmal ein Mitglied einer Familie infiziert, müssten sich auch die anderen schnell anstecken. Doch so ist es in der Praxis längst nicht immer. Das zeigt auch die viel diskutierte Studie , für die ein Team um den Bonner Virologen Hendrik Streeck den Corona-Ausbruch im nordrhein-westfälischen Ort Gangelt untersucht hat. Konkret haben sich die Forscher 900 Personen aus gut 400 Haushalten angesehen.
Das Manuskript ist noch nicht von Fachkollegen begutachtet, doch bereits veröffentlicht. In Zeiten der Coronakrise ist das eine übliche Verfahrensweise. In der öffentlichen Diskussion über die Arbeit ging es bisher vor allem um die Frage, wie hoch die Sterblichkeit von Infizierten in Gangelt war. Doch auch zu einem anderen Aspekt enthält das Papier interessante Aussagen - nämlich zu der Frage, wie leicht sich Mitglieder eines Haushalts infizieren.
Nicht jeder im Haushalt steckt sich an
Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von der sogenannten sekundären Befallsrate. Englisch heißt sie "secondary attack rate" und wird SAR abgekürzt. Diese Zahl beschreibt, wie viele Menschen erkranken, nachdem sie Kontakt mit einem Infizierten in ihrer unmittelbaren Umgebung hatten. Je höher die SAR ist, desto sicherer stecken sich bis dahin gesunde Menschen im Alltag an.
Für einen Haushalt könnte man wegen des engen, langen Kontaktes der Mitglieder annehmen, dass der SAR-Wert bei 100 Prozent liegt, man sich also immer an infizierten Mitbewohnern ansteckt. Doch das ist falsch. Bereits frühere Studien aus China haben gezeigt, dass das neue Coronavirus nicht zwingend alle Mitglieder eines Haushalts trifft, wenn es einmal eingeschleppt wurde.
Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".
Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.
Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.
Die Erfahrungen aus Gangelt bestätigen den Eindruck. "Die Studie ist ein weiterer Beitrag zu unserem bisherigen Wissen", sagt Michael Hölscher, Direktor des Tropeninstituts der Uniklinik München. Allerdings seien weitere Analysen notwendig, um nicht nur eine Tendenz, sondern auch im Detail verlässliche Zahlen zu ermitteln. Das Problem: Insgesamt flossen nur Daten aus 93 unterschiedlich großen Haushalten mit 238 Personen in die Auswertung ein. Und in Gangelt gab es ein besonderes Ausbruchsgeschehen, das nicht mit dem an anderen Orten vergleichbar ist.
Insgesamt infizierten sich in der Gemeinde 16 Prozent aller Probanden mit dem Coronavirus. Anders gesagt: Das durchschnittliche Infektionsrisiko lag generell bei etwa 16 Prozent. Wer mit einem Infizierten zusammenlebte, steckte sich - wenig überraschend - mit größerer Wahrscheinlichkeit an als der Durchschnitt. Dabei stieg das Risiko mit wachsender Haushaltsgröße allerdings immer weniger stark an:
Nehmen wir zunächst den Fall eines Zwei-Personen-Haushalts an: Ist hier eine der beiden Personen infiziert, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch die zweite Person ansteckt, um 28 Prozentpunkte erhöht. In absoluten Zahlen bedeutet das, dass sich statt durchschnittlich 16 von 100 Menschen im Schnitt 44 von 100 anstecken, wenn sie mit einem Infizierten zusammenleben.
In einem Drei-Personen-Haushalt steigt die Wahrscheinlichkeit um 20 Prozentpunkte auf insgesamt 36 Prozent.
Deutlich niedriger ist der Risikoanstieg dann in einem Vier-Personen-Haushalt. Hier steigt das Risiko laut den Studiendaten für die bis dahin gesunden Mitglieder nur noch um zwei Prozentpunkte auf dann 18 Prozent.
Das heißt: Je mehr Menschen in einem Haushalt leben, desto stärker sinkt für jedes einzelne Mitglied die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung. "Über die Gründe dafür sagt die Studie nichts aus", sagte Streeck im Gespräch mit der "FAZ" . Man könne jedoch darüber spekulieren, dass in einem Zwei-Personen-Haushalt meistens Paare lebten und sich dann eher beide infizierten. "In einem Vier-Personen-Haushalt kann man sich eher aus dem Weg gehen, wenn jemand sich krank fühlt oder positiv getestet wurde", so Streeck.
Daten taugen nicht für generelle Aussagen zum Ansteckungsrisiko
Forscher, die nicht an der Studie beteiligt waren, gehen dagegen davon aus, dass die Zahlen zu den Drei- bis Vier-Personen-Haushalten keine allgemeine Gültigkeit haben. Generelle Aussagen über das Ansteckungsrisiko innerhalb einer Familie seien so nicht möglich. "Die Werte sind mit großer Vorsicht zu interpretieren", sagt etwa Hölscher, der sich mit anderen Epidemiologen über die Studie ausgetauscht hat.
"In den Drei- und Vier-Personen-Haushalten in Gangelt leben in der Regel wohl Familien", sagt er. "Kinder sind in der Gangelt-Studie aber unterrepräsentiert und die Zahl dieser Haushalte damit gering." Die Ergebnisse könnten zu einem Teil also durch zufällige Besonderheiten der untersuchten Haushalte entstanden sein.
Außerdem sei zu bedenken, dass der Corona-Ausbruch seinen Ursprung bei einer Karnevalsveranstaltung hatte, so Hölscher. Das heißt: Kleine Kinder haben an dem Abendtermin nicht teilgenommen. Damit konnten sie sich dort nicht anstecken und hatten wahrscheinlich ein geringeres Grundrisiko für eine Infektion als der Durchschnitt. Die Forscher um Streeck könnten demnach unterschätzt haben, wie stark das Infektionsrisiko in Drei- und Vier-Personen-Haushalten durch einen Infizierten im Vergleich zum Grundrisiko gestiegen ist.
"Bei der Berechnung des Infektionsrisikos zusätzlicher Haushaltsmitglieder wurde das grundsätzliche Risiko, sich außerhalb des Haushalts anzustecken, für Kinder und Erwachsene als gleich hoch eingeschätzt. Das ist aufgrund der besonderen Situation in Gangelt aber eher unwahrscheinlich", erklärt Hölscher.
Unklar, wer die Infektionen in die Haushalte gebracht hat
Wie viele Menschen sich in einem Haushalt anstecken, hängt von vielen Faktoren ab und schwankt je nach Studie. Laut einer kürzlich im Fachmagazin "Lancet" veröffentlichten Untersuchung in der Stadt Shenzhen lag die SAR sogar nur bei 11 Prozent. Im Schnitt steckten sich also 11 von 100 Menschen an, die mit einem Infizierten zusammenlebten. Allerdings prüften die Forscher nicht, ob es in den Haushalten unentdeckte Ansteckungen ohne Symptome gegeben hatte.
Eine nicht unabhängig begutachtete Auswertung aus der chinesischen Stadt Guangzhou schätzt einen Wert von rund 19 Prozent. Und bei einer Studie zu infizierten Mitarbeitern in einem südkoreanischen Callcenter ergab sich bei deren Familien zu Hause eine SAR von etwa 16 Prozent.
In diesen Studien wurden jedoch die Haushaltsgröße und das generelle Ansteckungsrisiko in den Regionen teils nicht berücksichtigt. Die Studie im Callcenter schloss nur Menschen mit Symptomen ein, die sich vermutlich anders verhalten haben als Infizierte ohne Symptome.
Auch in der Gangelt-Studie ist nicht sicher, dass die Forscher alle Ansteckungen in Haushalten erfasst haben. "Bei dem verwendeten Antikörpertest kann es mehrere Wochen dauern, bis nach einer Infektion Antikörper nachgewiesen werden", sagt Hölscher, der in einer Studie über die Corona-Ausbreitung in der Stadt München den gleichen Test einsetzt wie Streeck und Kollegen in Gangelt.
Die Wissenschaftler in Gangelt haben über eine Woche hinweg Proben gesammelt. "Es kann sein, dass bei einigen Probanden zu der Zeit noch keine Antikörper nachgewiesen werden konnten, obwohl sie sich angesteckt hatten", so Hölscher. Auch fehlten Informationen zu den Übertragungswegen. "Die will das Team um Streeck noch veröffentlichen. Im Moment wissen wir aber noch nicht, auf welchem Weg das Coronavirus in Gangelt in die Familien kam, wie die Mitglieder zueinander stehen und wer sich bei wem angesteckt hat."
Hölscher warnt davor, Infektionen im eigenen Haushalt auf die leichte Schulter zu nehmen. "Die Angaben aus allen Haushalten zeigen, dass das Infektionsrisiko steigt, wenn ein Mitbewohner krank ist. Im Zwei-Personen-Haushalt stecken sich in solch einem Szenario laut der Auswertung im Schnitt mehr als vier von zehn Menschen an - selbst wenn sie wissen, dass das Virus in ihrem Ort grassiert." Das sei immer noch ein hoher Anteil.