Unnötige Behandlungen "Ärzte operieren, um die Miete reinzubekommen"

"Vorsicht! Operation" heißt ein neues Internetportal, das helfen soll, unnötige Eingriffe zu vermeiden. Der Gründer des Projekts, der Heidelberger Chirurg Hans Pässler, erhebt im Interview schwere Vorwürfe gegen Ärzte: Patienten kämen oft wegen Lappalien unters Messer.
Ärzte im OP-Saal: "Weitere Informationen einholen"

Ärzte im OP-Saal: "Weitere Informationen einholen"

Foto: Corbis

SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Pässler, wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Portal gegen überflüssige Operationen zu gründen?

Pässler: In den vergangenen Jahren sind die Operationszahlen dramatisch gestiegen, vor allem im ambulanten Bereich. Der niedergelassene Operateur, ganz gleich ob Gynäkologe oder Orthopäde, verbündet sich mit einem Operationszentrum, wo er einen OP-Saal mietet. Er muss schon deshalb viel operieren, um die Kosten für die Miete hereinzubekommen. Das ist ein Teufelskreis: Indikationen für Operationen werden immer großzügiger gestellt. Das sehe ich jeden Tag. Etwa 50 Prozent meiner Patienten kommen inzwischen zu mir, weil sie eine Zweitmeinung haben wollen. Viele sollten wegen irgendwelcher Lappalien unters Messer.

SPIEGEL ONLINE: Bei dem Portal machen bisher 14 Chefärzte mit. Wie haben Sie die dafür gewonnen?

Pässler: Ich wollte für jedes Spezialgebiet wie Bandscheibe, Schulter, Hand, Knie und Hüfte mindestens einen Experten haben. Ich habe vor allem Kollegen angesprochen, die aus Altersgründen aus der Chefarzttätigkeit ausscheiden. Diese Leute haben ein Maximum an Erfahrung, sie haben Zeit. Und sie sind nicht mehr gebunden an eine Klinik und damit unabhängig.

SPIEGEL ONLINE: Wie war die Reaktion?

Pässler: Eigentlich jeder, den ich angesprochen habe, war begeistert. Und alle kennen das Problem, dass zu viel operiert wird.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?

Pässler: Ein Klassiker für einen sinnlosen Eingriff ist der vordere Knieschmerz. Die Leute kommen die Treppe nur schlecht runter. Der Arzt veranlasst routinemäßig einen Kernspin, und der Radiologe stellt einen Riss im Innenmeniskus fest. Dieser Meniskus wird operiert, obwohl er gar nicht Ursache der Schmerzen war! Dadurch geht seine Pufferfunktion verloren, was zu einer Arthrose führt. Dabei rühren die Schmerzen in Wahrheit von einem Knorpelschaden hinter der Kniescheibe her, den man konservativ gut behandeln kann, etwa durch gezielte Dehnübungen.

SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie solch einen Fall über das Internet erkennen können?

Pässler: Der Patient füllt einen detaillierten Fragebogen aus und kann über das Portal Schmerzpunkte auf einem Knie einzeichnen. Der Experte kann auf diese Weise sehr genau sehen, wo es ihm wehtut. Überdies sendet der Patient seine Röntgenbilder oder Kernspinaufnahmen elektronisch ein. In den wenigen Fällen, wo das nicht reicht, würde der Experte weitere Informationen einholen.

SPIEGEL ONLINE: Und wann hört der Patient dann von Ihnen?

Pässler: Unser Ziel ist es, dass ein Gutachten spätestens nach zwei Wochen da ist.

SPIEGEL ONLINE: Wer soll dafür bezahlen?

Pässler: Je nach Aufwand müsste der Patient 200 bis 600 Euro zahlen. Aber ich kann mir vorstellen, dass Krankenkassen die Kosten dafür übernehmen würden. Der Vorstand der privaten Debeka etwa prüft derzeit, ob sie die Kosten in einem Pilotprojekt übernimmt. Auch mit der Deutschen Betriebskrankenkasse haben wir Gespräche geführt.

SPIEGEL ONLINE: Krankenkassen dürften schon deshalb interessiert sein, weil sie Geld sparen können. Steckt hinter Ihrem Portal die Idee, medizinische Leistungen zu rationieren?

Pässler: Nein. Wir wissen, dass in Deutschland viel zu viel operiert wird. Es gibt bei uns deutlich mehr Eingriffe als in anderen europäischen Ländern. Was kann man tun, um das Auswuchern der Operationen einzuschränken? Kontrollieren. Wir brauchen eine Art TÜV für die Medizin.

Das Interview führte Jörg Blech
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