Vorzeitiger Samenerguss Pharmakonzern erfindet Massenleiden

Selbst gesunde Männer haben jetzt ein neues Problem: Die Pharmaindustrie hat den vorzeitigen Samenerguss entdeckt. Angeblich kommt jeder Fünfte zu früh - doch praktischerweise gibt es genau dagegen ein Medikament.
Betretener Blick in die Unterhose: Laut Kampagne kennen Millionen Männer diese Situation nur zu gut

Betretener Blick in die Unterhose: Laut Kampagne kennen Millionen Männer diese Situation nur zu gut

Hamburg - Kein Mann kommt gern zu früh. Eine aktuelle Werbekampagne warnt, in Deutschland leide jeder fünfte Mann genau an diesem Problem: Er kommt beim Sex zu früh - und lässt seine Partnerin unbefriedigt zurück.

Doch endlich soll es Hilfe geben, verspricht die Ankündigung auf knallroten Plakaten, Anzeigen und Werbebannern. Darauf zu sehen ist ein Strichmännchen, das seiner Partnerin einen frustrierenden Einblick in die Unterhose gewährt. Weitere Informationen seien auf der vielsagend benannten Internetpräsenz späterkommen.de  erhältlich. Was steckt dahinter?

Auf der Website begrüßt zunächst wieder das Cartoon-Männchen den Besucher. Recht neutral wird über den vorzeitigen Samenerguss und seine Therapie berichtet. Es gibt eine praktische "Urologen in ihrer Nähe"-Suche, dazu noch zwei Erfolgsgeschichten. Mann lernt: Die "Ejaculatio praecox" (EP), wie Mediziner sagen, gehört zu den häufigsten sexuellen Funktionsstörungen des Mannes.

Der Geldgeber versteckt sich im Impressum

Dass die Seite von einem Pharmakonzern betrieben wird, verrät einzig das Impressum. Hinter der Kampagne steckt Berlin Chemie, zufällig der Hersteller des einzigen in Deutschland zugelassenen Wirkstoffs gegen EP.

Ursprünglich hatte der Hersteller Jansen-Cilag Dapoxetin, einen kurzwirkende Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), als Antidepressivum entwickelt. Seit 2009 wird der Wirkstoff unter dem Markennamen Priligy bereits gegen den zu frühen Orgasmus vermarktet. Im Februar dieses Jahres übernahm Berlin Chemie die Marke. "Daher auch die Kampagne", erklärt eine Sprecherin.

Viele Mediziner stehen der Kampagne kritisch gegenüber, sie befürchten, dass die "Ejaculatio praecox" künstlich hochstilisiert wird. Eine schwankende Leistungsfähigkeit im Bett werde plötzlich als krankhaft definiert - ein typischer Fall von Medikalisierung.

Für Männer sei der Nutzen des Medikaments bescheiden, notierte das pharmakritische "arznei-telegramm" bereits bei der Zulassung im Jahr 2009. In Studien verzögerte sich der Orgasmus dank Priligy - im Schnitt um 0,7 bis 1,1 Minuten.

Mit Stopp-Start-Technik und Druck den Höhepunkt verzögern

Die Kampagne ist pikant, weil für verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland nicht geworben werden darf. Das weiß auch Berlin Chemie. Die Internetpräsenz wird daher als "Service" bezeichnet. Und mit dem Hinweis versehen: "Leider können wir aufgrund gesetzlicher Bestimmungen keine Informationen zu verschreibungspflichtigen Arzneimitteln geben." Gemeinsam mit seinem Arzt könne der Mann aber die für ihn passende Therapieoption wählen.

Frank Sommer ist Männerarzt an der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf. Bevor er ein Medikament verschreibt, rate er, zunächst nach den Ursachen zu forschen. Einen Leidensdruck, wie ihn Männer bei der Erektionsstörung empfinden, sieht Sommer bei der EP häufig nicht. Die Männer seien meist gut in einer Partnerschaft integriert. Auch gebe es Tricks, wie ein Mann den Orgasmus verzögern kann. Etwa die Stopp-Start-Technik, bei der man den Penis bis kurz vor dem "point of no return" stimuliert. Dann wird gewartet, bis die Erregung zurückgeht, anschließend weiter stimuliert.

Die "Squeeze-Technik" wandelt den Ansatz ab: Kurz vor dem Höhepunkt drückt man im Bereich der Harnröhre zu. Die älteste und am häufigsten eingesetzte Variante, sagt Sommer, seien die Eichel betäubende Salben. Zudem spiele die Psyche bei der "Ejaculatio praecox" eine wichtige Rolle, weshalb die Partnerin in die Therapie miteinbezogen werden solle, das könne den Druck minimieren.

Normalerweise kommen Männer nach fünf bis 14 Minuten

Die Definition des zu frühen Kommens sei subjektiv, sagt der Winsener Urologe Andreas Schneider. Paare sollten offen über Wünsche und Vorstellungen sprechen und der Mann die Bedürfnisse seiner Partnerin kennen. Nicht immer müsse ein früher Samenerguss für beide unbefriedigend sein.

Allerdings fehlen einheitliche Daten, wie viele Männer unter frühzeitigem Samenerguss leiden. Von der Industrie bezahlte Studien gehen von einem Fünftel der deutschen Männer aus.

Dass hinter der Kampagne mit dem Cartoon-Männchen ein Geschäftsmodell stecke, will Berlin Chemie so nicht verstanden wissen. Eine Sprecherin erklärt, "das Ziel der Aufklärungskampagne ist, die Häufigkeit der Funktionsstörung aufzuzeigen, Wissen über Ursachen zu vermitteln und den Arzt als Ansprechpartner für Betroffene zu nennen."

Den Hinweis, dass Priligy ein Lifestyle-Medikament ist und Mann es selbst bezahlen muss, kann der Arzt dann ebenfalls gleich mitteilen. Je nach Packungsgröße und Wirkstoffgehalt werden zwischen acht und zwölf Euro pro Tablette fällig. Erhältlich ist Priligy nur gegen Rezept.

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