PSYCHIATRIE »Mein Nabel ist gefallen«
Solange sie nur Schwindelgefühle plagten, dachte sich Leyla Yilmaz* noch nicht viel dabei. Doch dann kamen die Schmerzen. Am Kopf, am Bauch, an den Schultern, am Rücken, an den Beinen. Überall tat es ihr weh. Ihr ganzer Körper schien aus dem Gleichgewicht geraten. Was nur, fragte sie sich verzweifelt, war mit ihr los?
Auch ihr Arzt rätselte: Eine organische Ursache der Schmerzen ließ sich nicht finden. Vielleicht, vermutete er, war seine Patientin seelisch krank? 20 Jahre lang hatte sie als türkische Arbeitsmigrantin in einer hessischen Fabrik geschuftet. Jetzt zehrte die Sorge um ihren chronisch kranken Mann und ihren rebellierenden Sohn Yilmaz'' letzte Kraftreserven auf.
Doch auch die Diagnose »Depression« wollte nicht recht passen. Dazu, fand der Arzt, wirkte die Frau viel zu lebendig, viel zu warmherzig und geistig rege - jedenfalls im Vergleich zu typischen Depressiven, die in ihrem Unglück für gewöhnlich emotional regelrecht zu versteinern pflegen.
Yilmaz hatte Glück: Ratlos, wie er war, überwies ihr Arzt sie an die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Marburg - auf eine der nur zwei deutsch-türkischen Modellstationen, die es für psychisch Kran-
ke in Deutschland gibt. Dort stand schnell fest: Yilmaz ist in der Tat schwer depressiv.
Jetzt sitzt sie gemeinsam mit acht weiteren - sechs türkischen und zwei deutschen - Patienten im Wintergarten der Station. Während draußen vor den Glaswänden Morgennebel durch den verwunschenen Anstaltspark kriecht, steht drinnen »Psychoedukation« auf dem Programm: Die Patienten, die alle an einer Depression leiden, sollen etwas über ihre Krankheit lernen. Eine Dolmetscherin übersetzt.
Leyla Yilmaz sitzt ganz aufrecht auf ihrem Stuhl. Ihre dunklen Augen unter den streng zurückgekämmten grauen Haaren sind auf die deutsche Ärztin Sigrid Eger gerichtet. Heute findet Yilmaz endlich den Mut, eine Frage zu stellen, die sie beschäftigt, seit sie hier ist: »Warum fühle ich mich anders als die deutschen Patienten?«
Nicht nur für Yilmaz ist das eine Schlüsselfrage. Fast alle türkischstämmigen Patienten in Marburg haben erlebt, wie schwer es den deutschen Ärzten fiel, ihre Krankheit richtig einzuschätzen - ganz egal, ob es sich nun um eine Depression, eine Schizophrenie oder ein anderes psychisches Problem handelte.
»Ich habe den Eindruck, dass die Ärzte unabsichtlich sehr oft entweder verharmlosen oder übertreiben«, sagt Suzan Kamçili-Kubach, die als Psychologin die Ambulanz der Station betreut. Nicht selten, so Eckhardt Koch, Leiter und Gründer der Modellstation, würden handfeste Fehldiagnosen gestellt: »Viele türkische Patienten zum Beispiel, die bei uns wegen einer angeblichen Psychose eingewiesen werden - wegen wahnhafter Vorstellungen also, oder weil sie Stimmen hören -, haben diese Symptome in Wahrheit gar nicht.«
Tatsächlich haben Missverständnisse und Fehleinschätzungen bei der psychiatrischen Behandlung von türkischstämmigen Patienten fatale Folgen:
* Viele türkische Patienten suchen den psychiatrischen Facharzt gar nicht erst auf: Sie nehmen deutlich seltener und erst bei viel schlimmeren Symptomen als deutsche Patienten psychologische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch.
* Migranten bekommen - vermutlich aus Hilflosigkeit - enorm große Mengen von Psychopharmaka verschrieben, oft, so Koch, von lauter verschiedenen Ärzten - deutschen wie türkischen -, die von den Rezepten der anderen gar nichts wissen.
»Viele Patienten hier kommen ohne klare Diagnose, aber mit einer ganzen Plastiktüte voller Medikamente an«, erzählt Koch. »Nach eigenem Gutdünken nehmen sie dann mal die und mal die Pille ein. So sind die Mittel natürlich entweder unwirksam oder gefährlich.«
Kochs Fazit ist eindeutig: »Wenn man bedenkt, dass in Deutschland knapp zwei Millionen Türken leben, kann man nur sagen, dass die psychiatrische Versorgung dieser Gruppe ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nicht entspricht.«
Zunehmend jedoch beginnen sich Ärzte, Psychologen, Soziologen und Pädagogen für das Phänomen der interkulturellen Psychiatrie zu interessieren. Kürzlich versammelten sich sogar mehr als 300 Fachleute auf einem deutsch-türkischen Psychiatriekongress in Essen.
Eines war dabei rasch klar: Es hapert an weit mehr als nur ausreichender Sprachkenntnis. Eine Studie der Hamburger Ärzte Christian Haasen und Oktay Yagdiran zeigt beispielsweise, dass selbst ein Arzt ohne Türkischkenntnisse durchaus regelmäßig zur richtigen Diagnose kommen kann - vorausgesetzt er weiß genug über den kulturellen Hintergrund seiner Patienten. Andererseits garantiert ein Dolmetscher noch keineswegs echtes Verständnis.
Denn je mehr sich die Forscher mit dem Problem beschäftigen, desto mehr wird ihnen bewusst, dass sie einer faszinierenden kulturwissenschaftlichen Frage auf der Spur sind: Wie kulturgebunden ist das Erscheinungsbild einer Krankheit? Äußert sich etwa eine Schizophrenie in Anatolien anders als in Ostfriesland? Und eine Depression in Istanbul anders als in Bottrop?
Genau das war Leyla Yilmaz'' Frage gewesen. Sigrid Eger, die Ärztin in der Marburger Wintergarten-Runde, versucht, sie zu beantworten: »Türken drücken ihre Krankheit häufig durch ihren Körper aus. Sie spüren dann zum Beispiel Schmerzen.«
»Deutsche Patienten hingegen«, fährt Eger fort, »können, anders als die türkischen, ihre Gefühle kaum mehr ausdrücken«, und dabei wandert ihr Blick von Yilmaz auf den Patienten Viktor Schwarz*. Auch er ist depressiv - aber über Schmerzen klagt er nicht. Ängste verfolgen ihn, seine Gedanken sind wie gelähmt. Mit unbeweglicher Miene starrt er geradeaus auf den Fußboden.
Wie die Unterschiede zu Stande kommen, weiß niemand genau. Der Hamburger Psychiater Haasen geht davon aus, dass sich eher die Gewichtung, weniger dagegen die Beschwerden selbst unterscheiden: »Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass Türken bei einer Depression tatsächlich mehr körperliche Symptome hätten. Auch deutsche Depressive haben oft Schmerzen. Aber sie sagen trotzdem: ,Ich bin depressiv.'' Türkische Patienten dagegen sagen: ,Ich habe Schmerzen.'' Sie stellen einfach den körperlichen Aspekt ihrer Beschwerden sehr in den Vordergrund.«
Doch warum? »Vielleicht«, spekuliert Eger, »ist es für türkische Menschen, die meist sehr eng in eine Familie mit all ihren Normen und Regeln eingebunden leben, einfach leichter, ihren Körper sprechen zu lassen.«
Sich im Konfliktfall auf den Körper zurückzuziehen - das könnte auch ein anderes Krankheitsbild erklären, das deutsche Ärzte rätseln lässt: den hysterischen Anfall, inzwischen »psychogener Anfall« genannt. Bekannt ist das Phänomen vor allem aus dem 19. Jahrhundert. Damals fielen in Westeuropa zahlreiche Frauen unter dramatischen Umständen um: Scheinbar aus dem Nichts heraus waren sie plötzlich nicht mehr ansprechbar, sie fingen an zu zucken, ihre Körper verkrampften sich zum hysterischen »Arc de cercle«, wie die Ärzte die für diese Patientinnen typische extreme Überstreckung des Körpers nannten.
Für Sigmund Freud war die Hysterie noch eines der wichtigsten Leiden, mit denen er sich beschäftigte. Inzwischen gilt sie in den westlichen Industrienationen als so gut wie ausgestorben.
Umso fassungsloser sind viele deutsche Ärzte, wenn plötzlich eine Frau im »Arc de cercle« mit Blaulicht in die Ambulanz eingeliefert wird. Epileptischer Anfall? Hirntumor? Oder eine Simulantin?
Tatsächlich haben Studien offenbart, dass hysterische, also psychogene Anfälle bei türkischstämmigen Migrantinnen, vor allem der ersten, aber auch der zweiten Generation, recht häufig vorkommen.
Auch in Marburg kennt man das Phänomen. »Das gehört bei uns zum Alltag«, sagt die Psychologin Kamçili-Kubach. Wer hier helfen wolle, der müsse die Funktion, die Aussage eines solchen Anfalls verstehen.
Eine Patientin beispielsweise, erzählt Kamçili-Kubach, sei auf der Station immer eine Außenseiterin gewesen - bis sie einen hysterischen Anfall bekam. »Es war so dramatisch«, erinnert sich die Psychologin, »dass alle angelaufen kamen. Die türkischen Patienten kannten die Symptome offenbar und haben sich sofort um die Frau gekümmert. Sie haben sie aufs Bett geschleppt und ihr einen Eisbeutel auf die Stirn gelegt - ab da gehörte sie zur Gemeinschaft.«
Neben der Sprache des Körpers kann aber auch die tatsächliche Sprache für Missverständnisse sorgen - insbesondere dann, wenn Metaphern ins Spiel kommen.
Das prominenteste Beispiel ist der so genannte Nabelfall. »Sehr oft«, erzählt Kamçili-Kubach, »behaupten türkische Patienten, wenn man sie nach ihren Beschwerden fragt: ,Mein Nabel ist gefallen'' und machen dazu auch entsprechende Gesten. Aber das heißt natürlich nicht, dass sie tatsächlich glauben, ihr Bauchnabel sei heruntergefallen. Sie meinen damit, dass sie sich aus dem Gleichgewicht geraten fühlen.«
Auch magische Ideen - etwa vom »bösen Blick« oder Geistern, die in Menschen einfahren können - sind vor allem in der Osttürkei weit verbreitet. »So etwas kann ruck, zuck den Stempel ,Schizophrenie'' bekommen«, sagt Koch. Dabei spreche ein Patient aus Anatolien, der sagt ,der böse Blick hat überhand gewonnen'', meist schlicht von einer gestörten Beziehung.
Andererseits kommen natürlich auch in echten Wahnvorstellungen oder Halluzinationen böser Blick und unheimliche Geister vor. »Man muss also wirklich vorsichtig sein und sich im Zweifel über die genauen Vorstellungen, die im Herkunftsort des Patienten üblich sind, informieren«, sagt Koch. Besonders brisant wird es für die Marburger Ärzte, wenn sie es mit Asylbewerbern zu tun haben. Regelmäßig werden Patienten in ihre Station überwiesen - Kurden etwa - , die, obwohl sie schon seit acht, zehn oder sogar zwölf Jahren in Deutschland leben, jetzt kurz vor der Abschiebung stehen. Verzweifelt kämpfen sie gegenüber Ämtern und Richtern um die Anerkennung ihrer Krankheit, die ihnen zumindest eine vorläufige Duldung garantiert.
Die Ärzte in Marburg stehen dabei vor einem unauflöslichen Dilemma: Je besser und schneller sie ihren Patienten helfen, desto schneller werden diese abgeschoben. »Eigentlich eine unzumutbare Aufgabe!«, sagt Koch. »Wie sollen wir da eine sinnvolle Therapie durchführen?«
»Stärken« ist für die Therapie aller Patienten ein Schlüsselwort auf der Marburger Station. Die Mischung aus Einzel- und Gruppengesprächen, Musik-, Beschäftigungs- und Bewegungstherapie empfindet Leyla Yilmaz »wie eine Schule«. Weil sie ihre Depression vor allem körperlich empfindet, kann sie mit den körperbetonten Therapieformen besonders viel anfangen.
Heute ist sie in der Bewegungstherapie in eine Welt aus schwebenden Luftballons eingetaucht. Ganz zart hat sie sie immer wieder nach oben gestubst. Mit den Händen, den Ellenbogen, den Schultern, dem Kopf, den Knien, den Füßen - mit allem, was ihr ständig und immer wehtut.
»Dabei«, sagt Yilmaz hinterher, und die Dolmetscherin übersetzt, »ist die Zartheit der Luftballons auf meinen Körper übergegangen. Da waren die Schmerzen für einen Moment weg.«
Von dem therapeutischen Konzept der Modellstation profitieren aber nicht nur die türkischen Patienten. »Gerade bei der Gruppenarbeit tut es vor allem den depressiven deutschen Patienten gut, von der Redefreude und der Emotionalität der türkischen Patienten ein bisschen mitgerissen zu werden«, sagt Sigrid Eger. Außerdem mache das auch ihre Arbeit als Ärztin viel leichter und angenehmer.
Tatsächlich ist das Marburger Modell viel mehr als nur eine psychiatrische Station: Es ist auch ein Begegnungsraum. Zum Beispiel, wenn in der Frauengruppe deutsche und türkische Marburgerinnen feststellen, wie ähnlich ihre Lebenssituation als arbeitende Frau, die Mann und Kinder versorgen muss, ist. Oder wenn die Patienten plötzlich merken, dass sie alle mal dem Arzt »untreu« werden: Die einen gehen zum »Hodscha«, zum islamischen Heiler, die anderen zum Heilpraktiker.
Oder wenn Leyla Yilmaz lernt, dass nicht nur bei Türken, sondern auch bei Deutschen die Frauen viel häufiger an einer Depression erkranken als die Männer. »Wirklich? Wirklich?«, fragt sie immer wieder und lacht. »Ich dachte, deutsche Frauen seien nicht so unterdrückt!«
VERONIKA HACKENBROCH
* Namen von der Redaktion geändert.