400 Jahre Jamestown Streit um die Totschlag- und Tabak-Siedlung
"Verwechseln Sie das nicht mit der Disney-Version von Jamestown mit einer singenden Pocahontas und einem flachsblonden John Smith", warnt der Korrespondent des US-amerikanischen Fernsehsenders CBS seine Zuschauer. Wenn die USA in dieser Woche den Beginn der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer - und damit den allerersten Keim ihres eigenen Aufstiegs zur Weltmacht - feiern, legen Historiker und Archäologen die Stirn in Falten. "Es gab Helden - hier gibt es Epen - aber es gibt auch Geschichten von Gier, Feindseligkeit und Rassismus", sagte der Historiker James Horn zu CBS.
Im Mai 1607 legten drei Schiffe in der Chesapeake-Bucht unweit von Richmond im heutigen US-Bundesstaat Virginia an. Die von Londoner Kaufleuten finanzierte Virginia Company wähnte Reichtümer auf der anderen Seite des Atlantik und schickte Abenteurer, sich diese unter den Nagel zu reißen. Der einarmige Anführer des europäischen Vortrupps, Christopher Newport, hatte schon als Freibeuter die Karibik unsicher gemacht und an der Seite des berüchtigten Sir Francis Drake gefochten.
150 Männer und Burschen waren an Bord der Schiffe, 104 von ihnen - darunter 57 Gentlemen von edler Abstammung - ließen sich in der vermeintlichen Wildnis nieder, während die Schiffe nach England zurückkehrten.
Historiker wissen heute genau, wer sie waren, und das lässt tief blicken: Ein Priester, aber keine Bauern, dazu Zimmerleute, Maurer, Schmiede und Ärzte - das war nicht die Besetzung für ein Dörfchen von Selbstversorgern. Plündern, Rauben, Ausbeuten, das muss von Anfang an zum Konzept gehört haben.
Die Siedler bauten Tabak an statt Weizen
Der Archäologe William Kelso hat über eine Million Stückchen Abfall, Alltagsgegenstände und Tauschobjekte aus dem Boden des historischen Jamestown geklaubt. "Wir fanden Tabakpfeifen, die hier hergestellt wurden", sagte er zu "CBS". "Und dann fanden wir Tabaksamen, intakte Tabaksamen, am Boden eines Fasses." Tabak, und nicht etwa Nahrungsmittel waren das bevorzugte Anbaugut der Bewohner von Jamestown, die sich nur widerwillig der Landwirtschaft zuwandten. Bald ließen sie Sklaven für sich das Rauchkraut anpflanzen - mit dessen Export waren gute Gewinne zu machen. 1616 führte jener John, den das Disney-Publikum als Märchenprinzen der Indianerprinzessin kennt, Tabaksorten aus der Karibik ein. Auf ihn geht der Ruf des Virginiatabaks zurück.
Hungersnöte, Gewalt und Bevölkerungsschwund in der einsamen Siedlung sind historisch gut belegt. Viele Historiker vertreten inzwischen die These, dass es letztlich der wirtschaftliche Erfolg des Tabakanbaus war, der Jamestown überleben ließ.
Doch dass die Sumpfsiedlung im Nirgendwo im Jubiläumsjahr nun als Keimzelle des freiheitlichen Gemeinwesens, des freien Handels und überhaupt des Aufstiegs der späteren Union der protestantisch-arbeitsamen Ex-Kolonien zur Supermacht idealisiert wird, sorgt in der US-Gesellschaft für Streit. Das sei eine einseitige, beschönigende, gänzlich eurozentristische Sichtweise, lautet der Vorwurf.
Brimborium um die Kolonisten
"Jahrtausende bevor die ersten Europäer ankamen gab es schon Menschen auf diesem Kontinent, die hochentwickelte Zivilisationen repräsentierten", ereiferte sich Richard Moe, der Präsident des National Trust for Historic Preservation Ende März in der "New York Times". "Sie waren bewandert in Kunst, Architektur, Landwirtschaft und Astronomie. Sie waren die ersten Amerikaner." - Der Tenor des Gastbeitrags: Um das 400-Jahre-Jubiläum wird viel Brimborium mit nachempfundenen Schiffen, Hütten und Kostümen betrieben, während viele Zeugnisse indigener Kulturen von Verfall und mutwilliger Zerstörung bedroht sind.
"Auslöschung, Völkermord, Gräueltaten" - die Nachfahren der Indianer von damals boykottieren heute den Festakt mit Queen Elizabeth II. Auch der englischen Krone brachte Jamestown kein Glück.
So könnte der Nine Mile Canyon in Utah - mit 10.000 Steinbildern als längste Bildergalerie der Welt bekannt - bald von Ölarbeitern verwüstet werden. Das Agua Fria National Monument in Arizona wird von einer jährlich wachsenden Zahl von Geländewagenfahrern heimgesucht, denen nur ein Ranger gegenübersteht, der Schäden von der historischen Stätte fernhalten soll. In Gold Butte bei Las Vegas, wo Ureinwohner Felszeichnungen hinterließen, verewigen sich zeitgenössische Amerikaner mit Graffiti und Einschusslöchern. "Dieselbe traurige Geschichte kennt man auch anderswo nur allzu gut", schimpft Moe. Auch diese Orte gehörten zur "gemeinsamen Geschichte" - würden aber offenbar nicht so empfunden.
"Auslöschung, Völkermord, Gräueltaten"
Wie unterschiedlich der Blick auf die gemeinsame Geschichte ausfallen kann, zeigen die Nachfahren jener Indianer, die vor 400 Jahren im Gebiet um das spätere Jamestown siedelten. "1607, das ist für mich der Beginn des Landraubs der Engländer", sagt Bill Miles, Häuptling der Pamunkey-Indianer. Häuptling Ken Adams vom benachbarten Volk der Mattaponi macht klar, wie tief sich das Unrecht der Kolonialisten aus Europa ins kollektive Gedächtnis der Indianer eingebrannt hat: "Wenn ich an 1607 denke, kommen mir Begriffe wie Auslöschung, Völkermord, Gräueltaten in den Sinn."
Etwa 15.000 Indianer hatten 1607 um die Siedlung Jamestown im heutigen Bundesstaat Virginia gelebt. Hundert Jahre später waren nur noch etwa 1500 übrig. Viele Indianer wurden von den Kolonialisten mit Waffengewalt getötet. Die meisten jedoch starben an eingeschleppten Krankheiten wie Typhus und Pocken.
Die erste permanente Siedlung der Engländer war es auch, in der - nur zwölf Jahre nach der Gründung - die ersten Sklaven aus Afrika an Land gebracht wurden. Afroamerikanische Verbände hatten die diversen Events zum 400-Jahres-Jubiläum daher heftig kritisiert. Die Organisatoren sprechen daher mittlerweile nicht mehr von "Feierlichkeiten", sondern von "Gedenkveranstaltungen".
Häuptling Miles von den Pamunkey-Indianern hat wie etliche andere Vertreter der Ureinwohner die Einladung zum offiziellen Festakt rundweg ausgeschlagen. Am kommenden Donnerstag wird die englische Königin Elizabeth II. vor Ort an den Beginn der Kolonialisierung Nordamerikas erinnern. Dies hatte sie bereits 1957 zum 350-jährigen Jubiläum desselben Vorpostens getan.
Wenn am Donnerstag unzählige Laiendarsteller in historischen Kostümen und Nachbauten der Siedler-Segelschiffe eine Dokudrama-Version der Geschichte herbeizaubern, dürfte die Monarchin das Treiben zwiegespalten beobachten: Mit der ersten permanenten Siedlung in Nordamerika wurde gleichzeitig der Keim für die Renitenz der Neuamerikaner gelegt, die sich knapp 170 Jahre später von England und der Krone lossagten - und deren Nachfolgen die alte Heimat heute in vielfacher Hinsicht überflügelt haben.
stx/AFP