Christian Stöcker

Barbarei und Toleranz Zum Glück gibt's den Islam

Der Islam wird von seinen Kritikern als barbarisch dargestellt, das Christentum als aufgeklärt. Beides ist falsch. Tatsächlich waren einst die Christen die wahren Barbaren.
Eine verschleierte Frau in Deutschland

Eine verschleierte Frau in Deutschland

Foto: Boris Roessler/ picture alliance / dpa

"Das Gemetzel war so grauenhaft, dass nach einer lateinischen Quelle 'sogar Soldaten, die an dem Töten beteiligt waren, kaum die Dämpfe aushielten, die von dem warmen Blut aufstiegen'. Kreuzfahrer durchstreiften die Stadt nach Beute und schlachteten wahllos Männer, Frauen und Kinder ab, Muslime und Juden."

So beschreibt der britische Historiker Thomas Asbridge in seinem Mammutwerk "Die Kreuzzüge", was die Invasoren aus Westeuropa nach der ersten Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 anrichteten. Das Schlachten dauerte mindestens zwei Tage, unterbrochen von einem christlichen Gottesdienst am ersten Abend. Ein zeitgenössischer Reisender berichtet, noch sechs Monate nach dem Massaker habe ganz Jerusalem nach Tod und Verwesung gestunken.

Für die Kreuzfahrer war der Massenmord nicht nur ein Racheakt, sondern "es erfüllte sie auch tiefe Frömmigkeit und die echte Überzeugung, Gottes Werk auszuführen", so Asbridge. Schlachten für den Herrn - das kommt uns heute auf schreckliche Weise bekannt vor. Viele im Westen aber betrachten Gewalt im Namen Gottes heute als exklusive Domäne des Islam.

Es lohnt, sich das Ausmaß des Grauens von damals vor Augen zu führen, um zu verstehen, warum das Wort "Kreuzfahrer" (crusaders) in der arabischen Welt bis heute ein so effektiver Kampfbegriff ist. Die Propagandisten des IS benutzen ihn, um die eigenen Mordtaten zu rechtfertigen und einen angeblich unüberbrückbaren Widerspruch zwischen christlicher und islamischer Welt zu beschwören. Und im Westen geht ihnen so mancher auf den Leim.

Christen vernichteten systematisch ihre eigene Kultur

Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Islam und Europa vielfältiger und komplexer, als Islamhasser und Islamophobiker uns glauben machen wollen. Was die Verteidiger des sogenannten christlichen Abendlandes gern ausblenden: Ohne die arabische Welt und den Islam sähe unser Abendland heute ganz anders aus. Weit finsterer.

Um das zu verstehen, muss man noch deutlich weiter zurückgehen als bis zu den Kreuzzügen. Das echte "finstere Mittelalter" Europas lag etwa zwischen dem vierten und dem achten Jahrhundert nach Christus. Damals hatte das Christentum sich in weiten Teilen Europas verbreitet, und seine Verfechter und Verteidiger begannen mit etwas, das man heute eher mit den Taliban assoziieren würde als mit dem christlichen Abendland: der systematischen Vernichtung von Kulturgütern.

Christliche Herrscher und Kirchenführer sorgten beispielsweise dafür, dass in West- und Osteuropa massenweise Bücher verbrannt wurden, ganze Bibliotheken opferte man der höheren Ehre Gottes. Alles Wissen jenseits der Bibel und theologischer Abhandlungen galt als gefährlich, weil es den Glauben hätte in Frage stellen können. Viele Schriften griechischer Philosophen und Dramatiker, natur- und geisteswissenschaftliche Abhandlungen konnten nur überleben, weil Gelehrte in den Osten flohen, Wissen und Bücher mitnahmen. "Über diese verschlungenen Pfade sollten also Araber Aristoteles und all die Schätze der griechischen Wissenschaft erben", schreibt Peter Watson in seiner grandiosen Welt-Kulturgeschichte "Ideen".

Aristoteles' Dialektik etwa sei im christlichen Denken geächtet worden, "weil ein Dialog mit Gott schlicht als unvorstellbar empfunden wurde". So kam es, "dass Aristoteles' Werke - mit Ausnahme von zwei seiner Abhandlungen über die Logik - aus dem Abendland verschwanden und uns nur erhalten blieben, weil sie von arabischen Übersetzern gehortet wurden". Andere Werke verschwanden vollständig. Sophokles etwa hat wohl mindestens 123 Dramen geschrieben - ganz erhalten sind gerade einmal sieben davon, ebenso wenige von Aischylos.

In der arabischen Welt herrschte weitgehende religiöse Toleranz

Die christlichen Kulturvernichter leisteten ganze Arbeit, auch später noch einmal, als im Zuge des byzantinischen Bilderstreits im achten und neunten Jahrhundert massenweise Kunstwerke zerstört wurden, weil die aktuelle religiöse Doktrin sie als Götzenbilder verdammte. Diese Vorgänge erinnerten daran, "dass aus dem religiösen Präjudiz nicht nur schöne Dinge, sondern auch ein Erbe an Grausamkeit, Zerstörungswut und Dummheit hervorgingen", schreibt Watson. Auch da denkt man unwillkürlich an IS und Taliban.

Hätten Araber und Perser nicht viele antike Schriften gerettet, noch weit mehr von der Geistesgeschichte des Abendlandes wäre verlorengegangen. Zu unserem Glück flossen die Ideen und das Wissen schließlich aus dem arabisch-persischen Raum zurück nach Europa. "In den frühen Jahrhunderten islamischer Herrschaft scheint es einen regen gesellschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den drei Religionen gegeben zu haben", schrieb der berühmte libanesisch-britische Orientalist Albert Hourani in seiner umfassenden "Geschichte der arabischen Völker". Anders als im christlichen Abendland herrschte in der arabischen Welt damals nämlich vergleichsweise weitgehende religiöse Toleranz: "Außerhalb der arabischen Halbinsel lebten beinahe in allen Städten Einwohnergruppen, die der einen oder anderen jüdischen oder christlichen Glaubensgemeinschaft angehörten", so Hourani.

Nichtmuslime standen sogar unter dem Schutz der jeweiligen Herrscher, solange sie sich an bestimmte Regeln hielten. Über jüdische und christliche Händler, Kaufleute und Gelehrte konnte so verloren gegangenes Wissen nach Europa zurückfließen. Der renommierte italienische Orientalist Francesco Gabrieli formulierte es so: "Der Okzident erhielt damals durch die Vermittlung des Islam entscheidende Elemente des Kulturerbes der Antike, was sich auf seine eigene spätere Entwicklung nachhaltig auswirkte".

Im medizinischen Bereich war der Wissenstransfer sogar noch nachhaltiger: Bis ins 15. Jahrhundert profitierten Ärzte in Europa, eingeschränkt durch die Wissenschaftsfeindlichkeit der kirchlichen Obrigkeit, von den Kenntnissen persischer und arabischer Mediziner in der Tradition Ibn Sinas - bekannt aus dem "Medicus".

Ohne den Islam wäre viel der abendländischen Kultur verschwunden

Ohne die arabische Welt, ohne den Islam, wären weite Teile dessen, was wir heute als abendländisches Kulturerbe betrachten, für immer verschwunden. Der Islam wird heute von seinen Kritikern als Religion der Barbarei dargestellt, die christliche Tradition dagegen als tolerant und aufgeklärt. Das eine ist so falsch wie das andere. Tatsächlich ist das, was wir heute als abendländische Tradition begreifen, nicht zuletzt der Abkehr von der Religion und der Hinwendung zur Vernunft zu verdanken - in der Antike ebenso wie im Zeitalter der Aufklärung.

Wenn die wechselvolle Geschichte von Islam und Europa eines zeigt, dann dies: Sobald die organisierte Religion - egal welche - dazu ermächtigt wird, politische und gesellschaftliche Normen zu setzen, wird es gefährlich. Denn wer sich auf einen letzten Grund, auf eine unbedingte Macht berufen darf, der muss keine rationalen Begründungen mehr liefern. Der kann Massaker ebenso anordnen wie die Zerstörung von Kulturgütern. Das gilt für das Christentum ebenso wie für den Islam.

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