Aerosolforschung Die geheimnisvollen Kräfte des Staubs
Das Experiment ist kinderleicht. Einmal die Zimmer daheim gründlich saugen und wischen, alle Krümel, Haare und den Staub vom Boden wegputzen und am nächsten Tag: einfach mal nichts dergleichen tun. Lange schlafen, Kaffee trinken und vielleicht gründlich eine Zeitschrift lesen, am besten diese hier, dann lässt sich der Ausgang des Versuchs leichter begreifen: dass nämlich am Abend der Staub wieder da ist ein gar nicht mehr triviales Ergebnis.
Wie aus dem Nichts haben sich winzige Flöckchen gebildet oder sogar Wollmäuse unter Möbeln versammelt. Alles ist wieder voller Staub. 6,2 Milligramm pro Quadratmeter sind es im Durchschnitt in einer deutschen Wohnung am Tag. Und sie fallen uns nicht einfach als größere oder kleinere Gewebeteilchen vom Pullover, aus den Kissen und vom Kopf, sie wehen nicht als Rußpartikel vom Schornstein des Nachbarn herein und legen sich so auf die Regalbretter. Die Urheber der verstaubten Wohnung sind unsichtbar, gehorchen ganz eigenen physikalischen Gesetzen und sind oft völlig unerwarteten Ursprungs: Sie können aus der gerade gelesenen Zeitschrift stammen, aber auch aus der Sahara, aus dem Atlantik oder sogar aus fernen Galaxien. Der Vorgang ist so alltäglich und doch so wundersam, dass sich neben dem Beruf der Reinigungskraft ein ganzer Wissenschaftszweig etablieren konnte: die Staub- beziehungsweise Aerosolforschung.
Auf dem Arbeitstisch von Jens Soentgen sieht es entsprechend schmutzig aus. Wie unterm Sofa des einen oder anderen Lesers versammeln sich hier Krümel, Sand, Flocken und Fasern. Doch arbeitet Soentgen, Chemiker, Philosoph und Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg, mit extrem sauberen Methoden. Er sammelt und untersucht seinen Forschungsgegenstand nicht bloß in Blechdosen und Petrischalen auf seinem Experimentiertisch, er bearbeitet ihn nicht nur mit Pinseln und Wattebäuschen. Er lässt ihn, wenn es sein muss, auch nach Größen filtern, wiegen und chemisch analysieren.
Dank Soentgens Arbeit verfügt Augsburg über präzisere Daten zur Belastung durch Pollen, Dieselruß und Feinstaub als jede andere Stadt in Deutschland. Rasterelektronenmikroskope, Massenspektroskope und Gas-Chromatografen verraten Forschern die Zusammensetzungen von Staubproben und helfen so, die Herkunft der Partikel zu erkennen aber auch ihr Geheimnis: jene unerklärlichen Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Alltagskosmos und den Regeln unsichtbarer Miniwelten. "Staub ist Materie, die so klein ist, dass Naturgesetze ganz anders auf sie wirken als auf größere Dinge", erklärt Soentgen.
Für das tägliche Staubwunder ist vor allem die Größe der Objekte entscheidend. Sie liegt im Mikrometerbereich. Ein Mikrometer ist ein Tausendstelmillimeter. Die größten Staubpartikel bringen es auf einen Hundertstelmillimeter. Um zu verstehen, warum sie nach physikalischen Alltagsregeln unberechenbar und schlichtweg überall auftauchen, muss man eine Reihe komplizierter Gesetze berücksichtigen. Etwa jenes, nach dem die Masse eines Objekts, wenn es schrumpft, schneller abnimmt als seine Oberfläche. Die Oberfläche eines kugelförmigen Sandkorns zum Beispiel, das sich durch Abrieb auf Staubkorngröße verkleinert, schrumpft nur dem Quadrat seines Radius (r2) entsprechend, die Masse hingegen mit der dritten Radiuspotenz (r3). "Ab einer bestimmten Kleinheit wird daher die Oberfläche zur alles beherrschenden Größe, sodass dem Stoff, obwohl chemisch identisch, völlig neue physikalische Eigenschaften zukommen", erklärt Jens Soentgen.
Das heißt: Während für einen Stein oder ein dickes Sandkorn das Gesetz der Schwerkraft gilt, besteht Staub aus fast schwerelosen Flugobjekten und wird von Kräften bestimmt, die für den Menschen und die Gegenstände seiner Wahrnehmung kaum zählen: von feinsten Luftbewegungen, Adhäsionskräften und Elektrostatik, die man normalerweise ebensowenig spürt, wie man einzelne Staubpartikel sieht.
Bis der Mensch den Staub wahrnehmen und mit dem Putzen von vorn beginnen kann, vollziehen sich in der Nanowelt umwälzende Ereignisse. Hautschuppen, winzige Kleidungsfasern und der allergene Kot von Staubmilben, Pollen und Rußpartikel von Kerzen oder aus Schornsteinen, aber auch Feinstäube aus Autoabgasen schwirren in der Wohnungsluft herum. Darüber hinaus sind auch Botschafter aus entfernteren Regionen wie Salzkristalle dabei, die mit der Gischt aus Nord- und Ostsee bis in den Süden Deutschlands verweht werden. Das Meer, so seltsam es klingt, ist als Teilchenschleuder der bedeutendste Staubproduzent des Planeten. Und auch aus der zweitgrößten Staubquelle der Erde, den Wüsten, schwebt manches Partikel durch die deutsche Wohnung meist aus der Sahara, in der pro Jahr die unglaubliche Menge von nahezu einer Milliarde Tonnen Mineralstaubs aufgewirbelt und mit dem Wind fortgetragen wird.
Treffen diese verschiedenen Teilchen nun aufeinander, können sie sich je nach Ladung elektrostatisch anziehen, auf chemischem Weg verkleben, "oder sie verhaken sich mechanisch", sagt Soentgen. "Vor allem organische Partikel, deren Oberfläche oft eine Schuppenstruktur wie Wolle und Haar aufweist, bleiben aneinanderhängen wie Äste in den Strömungswirbeln der toten Winkel eines Bachs." Auf solche Arten bindet sich Staub an Staub, seine Masse wächst mit der dritten Radiuspotenz, die Oberfläche aber nur mit der zweiten, bis irgendwann die Gravitation an Bedeutung gewinnt. Während Partikel von weniger als 0,1 Mikrometer Größe sich noch wie Gasmoleküle ohne jede Fallgeschwindigkeit benehmen, beginnen sie von einem Mikrometer an zu sinken vorausgesetzt, die Luft steht still. Das Ergebnis sind irgendwann kleine, wie aus dem Nichts entstehende Staubflocken auf dem Boden oder auf dem Regalbrett.
Besonders gern entstehen diese Flöckchen in toten Strömungswinkeln der Nano-wildbahn Wohnung und wachsen dort zu ansehnlicher Größe weiter. Mikroluftströme, die Bewohner durch ihre Bewegungen erzeugen oder die über Heizungen aufsteigen und an kalten Außenwänden absinken, transportieren die Teilchen, bis diese sich in den Strömungsschatten solcher Wege sammeln, zum Beispiel zwischen Schränken. Dort finden die Partikel weiter zueinander. Haben sie eine gewisse Größe erreicht, verhaken sie sich auch mit gröberen Teilen wie Haaren: Erste Wollmäuse werden geboren.
Die Nanowelt ist in ständiger Bewegung
Auf Brettern und Dielen kann der Staub regelrechte kleine Teppiche bilden, manchmal hängt er aber auch in Flusenfäden an Wänden und von Decken. "Denn manche Stoffe, aus denen Staubpartikel bestehen, tragen freie Sauerstoffteilchen wie Titandioxid mit sich. Diese wechselwirken dann mit dem Material der Wände und kleben fest", sagt Soentgen. Aber auch elektrostatische Interaktionen und die sogenannten Van-der-Waals-Kräfte binden Staubpartikel an Oberflächen. Letzteres sind die schwachen Anziehungskräfte, die auch zwischen Wänden und den Haaren an Geckofüßen wirken, was es den Tierchen ermöglicht, kopfunter an der Decke entlangzuspazieren.
Die winzige Kraft, die nur aufgrund der Menge an Fußhaaren ein sichtbares Ergebnis in Geckodimensionen zeitigt, entsteht zwischen Molekülen, in deren Elektronenhülle sich die Ladungsverteilung verschiebt. Die Elektronen um einen Atomkern sind nicht immer gleich verteilt, wodurch sich kurzzeitig ein Dipol, eine auf der einen Teilchenseite stärker negative Ladung als auf der anderen bilden kann. Ein entsprechendes Gegenteilchen wird dann angezogen. Unter anderem auf diese Weise, so nehmen Astrophysiker an, verbinden sich auch Partikel im Weltall zum sogenannten Weltraumstaub. Koagulation wird der geheimnisvolle Vorgang genannt, der für die Entstehung von größerer Materie mit eigener Gravitation eine Grundvoraussetzung gewesen sein könnte. Die ganze Welt ein Staubprodukt also?
Manchmal stoßen sich Staubpartikel aus verwandten Gründen aber auch ab, und große Materie zerfällt wieder. "Die Nanowelt ist in ständiger Bewegung", sagt Soentgen, was zum Beispiel das permanente Hin-und-her-Zittern von Molekülen vor Augen führt, das nach dem schottischen Botaniker Robert Brown benannt ist. Er hatte Staubteilchen beobachtet, die durch die Wärmebewegungen von Gasmolekülen unregelmäßig hierhin und dorthin gestoßen werden. "Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz hatte die ständigen Bewegungen der kleinen Teile sehr genau beobachtet und kam zu dem Schluss, dass es die größeren Gegenstände in unserer Alltagswelt gar nicht gebe, sondern dass diese nur jeweils verschiedene Schwärme solcher Minipartikel seien", sagt Soentgen. In Tod und Zerfall vollzieht sich nach Leibniz nur ein Übergang in jene winzige Welten, die der großen Welt des Menschen an Schönheit und Vollkommenheit in nichts nachstehen. Er wird zu Staub.
Auch Soentgen ist Naturforscher und Philosoph zugleich. Neben Dosen- und Krümelbergen wächst auf seinem Experimentiertisch ein Bücherstapel, darin: "La beauté de la poussière" "Die Schönheit des Staubs". So weit reicht die Staubforschung: vom Niveau unterhalb der Couch bis hinein in metaphysische Höhen. Wobei es dem Normalverbraucher im Alltag reicht, sich über den Staub zu ärgern und ihn zu bekämpfen. Deshalb anstelle weiterer Philosophie zunächst ein paar praktische Putztipps: Fegen ist schlecht, denn es wirbelt Staub bloß auf. Wischen mit feuchten oder antistatischen Tüchern und Saugen sind die effektivsten Methoden. Und deutlich vor, nicht aber erst nach dem Putzen sollte gründlich gelüftet werden, denn von draußen kommt viel herein, und frische Luftzüge verwirbeln ebenfalls, was man eigentlich in den Griff bekommen möchte.
Vor allem aber sollte der Mensch an seinen unsichtbaren Feinden und ihrer Physik nicht verzweifeln, sondern sich gelegentlich an den riesigen Nutzen erinnern, den er aus den Eigenschaften des Staubs zieht. Würde Staub zum Beispiel nicht an Oberflächen haften, könnte sich niemand das Gesicht und dem Baby nicht den Popo pudern. Und in den Klassenzimmern hingen keine Tafeln, die mit Kreide beschrieben werden. Ja, vermutlich gäbe es solch hoch entwickeltes Leben gar nicht ohne die seltsamen Bindungen, die kleinste Moleküle wie von selbst eingehen zumindest aber wäre das Leben auf Erden nicht ausreichend geschützt, wenn sich die kleinen Teilchen nicht so beliebig mobil und schwerelos verhielten: In der Atmosphäre erfüllt Staub bedeutende Aufgaben.
Im Januar 2008 flog Jost Heintzenberg, Leiter des Leibniz-Instituts für Troposphärenforschung in Leipzig, von den Kapverden aus mit kleinen Jets in die Wolken von Saharastaub, der mit den Passatwinden von Westafrika quer über den Atlantik driftete. In fünf Kilometern Höhe entnahm er Proben und maß vom Flugzeug aus die Sonnenstrahlung, die von der Staubschicht reflektiert wird. "Die Auswirkung von Stäuben auf den globalen Strahlungshaushalt ist enorm, aber noch weitgehend unverstanden", resümiert Heintzenberg. Dadurch, dass das Sonnenlicht vom Mineralstaub in der unteren Atmosphäre zurückgeworfen wird, kühlt beispielsweise die Luft über dem Atlantik ab was nicht nur die Entstehung von Hurrikanen bremst, sondern insgesamt den Treibhauseffekt. Rußpartikel haben zwar die umgekehrte Wirkung, doch vom Staubgehalt der Atmosphäre insgesamt hängt die Wolkenbildung ab, weil Wasser an kleinen Materieteilchen kondensiert. In jedem Regentropfen steckt ein Staubkern.
Was über dem Atlantik aus den Wolken rieselt, ist daher Nährstoff für Plankton, und der phosphathaltige Saharastaub düngt nicht nur den Regenwald am Amazonas, sondern auch den Boden in der Karibik. Allerdings können die großen Staubwolken auch gefährliche Bakterien, Keime und Viren global verteilen, was der amerikanische Klimaforscher William Sprigg von der University of Arizona zurzeit untersucht und was die Weltorganisation für Meteorologie der UN zum Aufbau eines Staubwolkenwarnsystems bewegt.
Das Faszinierende am Staub
Woher aber wissen Forscher abseits meteorologischer Staubwolkenbilder, aus welcher Quelle die jeweiligen Stäube exakt stammen und welche Segnungen oder Gefahren sie bringen können? Die Zusammensetzung der Partikel verrät es. Rasterelektronenmikroskope, Massenspektroskope und Gas-Chromatografen helfen, Fragen zu klären wie: Sahara oder Sandkasten? Industrieanlage oder Gartengrill? Und so lässt sich aus dem Staub wiederum viel über Lebensbedingungen und ökologisches Fehlverhalten der Menschen ablesen. Sogar bis zu Details individueller Verfehlungen führt manche Staubspur, was sich die Ermittler des Bundes-kriminalamts zunutze machen: Sie nehmen Staubproben an Tatorten, ermitteln das typische Staubprofil der Umgebung und schauen dann, welche Teilchen davon abweichen. Finden sich Partikel tierischen Ursprungs in einem Haushalt ohne Tiere, dann war der Mörder zum Beispiel Hundehalter.
Jeden Menschen umgibt eine persönliche Staubwolke, die "Personal Cloud". Sie besteht aus einem Teil der etwa 50 Millionen Hautschuppen, die ein Mensch täglich absondert, sowie aus Stoffen, die er in seiner Umwelt einsammelt: Tabakrauchpartikel, Ruß von Automotoren, Tonerstaub, Waschpulver und Mehl. Aus dieser Aura können Kundige ganz ohne Esoterik lesen. Und auch Zeitschriftenleser lassen sich so leicht erkennen. Der Anteil an winzigen Porzellanerdepartikeln ist in ihrer persönlichen Staubwolke besonders hoch. Das Kaolin genannte Mineral wird als Füllstoff und Aufheller für bedrucktes Papier verwendet und trägt wenngleich nur minimal dazu bei, dass die Wohnung auch an stillen Lesesonntagen einstaubt.
Solche chemischen Feinheiten sind es, die sogar die Herkunft völlig fremdartiger Teilchen verraten können zum Beispiel jener aus dem Weltall: Ihre Zusammensetzung muss sich nur von jener aller typisch irdischen Partikel unterscheiden, die bis in die Stratosphäre gelangen. Dort, in etwa 20 Kilometern Höhe, kreuzen regelmäßig Nasa-Flugzeuge und fangen kosmischen Staub ein, bevor er sich zu sehr mit irdischem Staub vermischt. Sind die Partikel, die an mit Silikonöl bestrichenen Plexiglasscheiben unter den Tragflächen kleben bleiben, stark mit dem seltenen Isotop Helium-3 angereichert, müssen sie aus dem interstellaren Raum stammen. Denn nur dort können Sonnenwinde sie kräftig mit Heliumatomen aufladen.
Nach Berechnungen rieseln pro Jahr bis zu 40.000 Tonnen kosmischer Staub auf die Erde extrem interessantes Material, das von der Nasa auch im All gesammelt und analysiert wird, um Aufschluss über die größten Fragen der Wissenschaft zu gewinnen: Wie binden und ballen sich diese Teilchen zusammen? Ließen sie so vielleicht erst die gravitätische Materie entstehen? Und welcher Art sind ihre organischen Komponenten, durch deren Verbindung das Leben auf die Erde gekommen sein könnte? Das ist für Jens Soentgen "das Faszinierende am Staub: Er verbindet kleinste, unscheinbare Phänomene wie die Wollmaus unter dem Sofa mit den erhabensten Dimensionen". Noch in den letzten Winkeln unserer Wohnungen, sagt er, vollzögen sich unaufhörlich solche bedeutsamen Prozesse: "Es bilden sich neue Gestalten, es laufen regelrechte kleine Evolutionen ab." Und mehr als ein kinderleichtes Experiment ist nicht nötig, um die Resultate begutachten zu können.