Gedankenexperimente Wie Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie erfand

Einstein (im Juli 1936): "Plötzlich hatte ich einen Einfall"
Foto: APWas wäre die heutige Welt ohne Albert Einstein? Das Navi im Auto funktioniert dank seiner Relativitätstheorie - und unser Wissen über Urknall, Schwarze Löcher und die rätselhafte dunkle Energie beruht maßgeblich auf Einsteins Ideen.
Vor 100 Jahren hielt Albert Einstein in Berlin vier Vorträge, in denen er die Allgemeine Relativitätstheorie vorstellte. Unter anderem war es dem Physikgenie damit gelungen, ein altes Astronomierätsel zu lösen - die sogenannte Periheldrehung des Planeten Merkur. Dabei handelt es sich um eine minimale Lageänderung der Umlaufbahn des Planeten um die Sonne.
Einstein gilt als das letzte große Forschergenie - er ist der Popstar der Wissenschaft schlechthin. Was aber hat den eigenwilligen Physiker so erfolgreich gemacht? Sicher seine Begabung, seine Beharrlichkeit, sicher auch das Glück, zur richtigen Zeit die richtigen Ideen gehabt zu haben.
Schwerelos im freien Fall?
Aber vielleicht war es vor allem seine Lust am Denken, am Spekulieren. Er stellte verrückte Fragen, etwa: Was würde passieren, wenn man hinter einem Lichtstrahl herliefe? Einstein experimentierte im Kopf, anders als viele seiner Forscherkollegen, die sich im Labor abmühten. Es waren Gedankenexperimente, die ihn zur Allgemeinen Relativitätstheorie führten. Und das deutsche Wort Gedankenexperiment ist längst auch im Englischen Usus.
Alles relativ
"Ich saß auf meinem Stuhl im Patentamt in Bern", berichtete der Physiker rückblickend. "Plötzlich hatte ich einen Einfall: Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, wird sie ihr eigenes Gewicht nicht spüren. Ich war verblüfft." Dieser Versuch im Kopf von 1907 war der Ausgangspunkt. "Es führte mich zu einer Theorie der Gravitation", sagte Einstein später.
Aus den Überlegungen über einen frei fallenden Menschen, heute tatsächlich zu erleben bei den Parabelflügen der Esa, wurde schließlich das Gedankenexperiment vom fensterlosen Fahrstuhl. Damit lassen sich die Grundgedanken der Allgemeinen Relativitätstheorie ganz ohne komplizierte Formeln erklären.

Einsteins Relativitätstheorie: Experimente im Kopf
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem geschlossenen Lift. Der Fahrstuhl hängt still über einer großen Masse, zum Beispiel der Erde. Im Lift spüren Sie die Gravitationskraft, sobald Sie einen Gegenstand loslassen, fällt er zu Boden. Aber woher wissen Sie eigentlich, dass sich unter Ihnen eine große Masse befindet? Sehen können Sie diese schließlich nicht.
Täuschung im Lift
Es könnte auch sein, dass der Fahrstuhl in einer Rakete steckt, die durch den schwerkraftfreien Raum rast - siehe folgende Zeichnung. Und ein losgelassener Gegenstand fällt nur deshalb zu Boden, weil die Rakete beschleunigt. Die Kraft, die den Gegenstand zum Liftboden zieht, kennen Sie auch vom Autofahren: Diese drückt Sie beim rasanten Anfahren gegen den Sitz.

Fahrstuhl ohne Fenster: Im Hochhaus oder in einer beschleunigenden Rakete?
Foto: SPIEGEL ONLINEEinstein folgerte: Wer sich in dem fensterlosen Lift befindet, kann nicht unterscheiden, ob sich dieser in einem Schwerefeld befindet oder ob der Lift beschleunigt wird. Genauso wenig lässt sich für den Fahrstuhlnutzer unterscheiden, ob ein Fahrstuhl im freien Fall auf eine große Masse zurast oder ob er frei von Kräften im Raum schwebt.
Schwerkraft und eine beschleunigende Kraft müssten demnach wesensgleich sein, kombinierte der Physiker. Ein homogenes Schwerefeld lässt sich als beschleunigte Bewegung dieser Masse beschreiben. Doch das war erst die halbe Wahrheit. Das Fahrstuhlexperiment hat nämlich einen kleinen Haken.
Freier Fall
Stellen wir uns zwei Gewichte vor, die im Abstand von einem Meter zueinander aus derselben Höhe zum Liftboden fallen. Die zwischen den beiden Gewichten wirkende, sehr geringe Gravitationskraft wollen wir dabei vernachlässigen. In einem Fahrstuhl, wie wir ihn aus dem Alltag kennen, würden sich die beiden Gewichte entlang parallel zueinanderliegender Linien zu Boden bewegen.
In einem überdimensionalen Fahrstuhl jedoch könnte man sehen, dass die Falllinien keinesfalls parallel zueinander sind, sondern einen spitzen Winkel bilden. Beide Gewichte stürzen in Richtung des Erdmittelpunkts. Und weil sie einen Abstand zueinander haben, kommen sich die beiden Gewichte beim Fallen immer näher - siehe folgende Zeichnung:

Schräger Fall: Wegen der Gezeitenkräfte kommen sich beide Gewichte immer näher
Foto: SPIEGEL ONLINEEinsteins Geniestreich war nun, die Gravitation aus seinem Fahrstuhlexperiment komplett zu eliminieren.
Wie aber entledigt man sich der minimal unterschiedlichen Wirkung einer großen Masse auf die beiden Gewichte im Fahrstuhl? Diese sogenannten Gezeitenkräfte sind es schließlich, die zwei scheinbar parallel nebeneinander fallende Körper immer enger zueinanderbringen.
Einstein löste dieses Problem geometrisch - mit der sogenannten Krümmung des Raumes, oder präziser formuliert: mit der Krümmung der Raumzeit. Denn in der Relativitätstheorie ist der Raum vierdimensional, neben den Raumkoordinaten x, y, z gibt es noch die Zeit t.
Anziehungskraft eliminiert
Laut Einstein sind Massen dann nichts anderes als Störungen der Raumzeitgeometrie. Es ist schwer, sich diesen Effekt vorzustellen. Aber es gibt eine anschauliche Entsprechung im zweidimensionalen Raum. Stellen wir uns vor, die beiden punktförmigen Gewichte bewegen sich in einer Ebene. In einer gewissen Entfernung von ihnen befindet sich eine punktförmige, sehr große Masse. Diese zieht die beiden Gewichte an.
Anfangs bewegen sich die Gewichte gleich schnell auf scheinbar parallelen Bahnen. Aber wegen der leicht unterschiedlichen Gravitationswirkung der großen Masse rücken sie schließlich immer enger zusammen.
Einstein änderte an dieser Stelle quasi die Perspektive: Gravitation beeinflusst nicht die Bahnen der Gewichte, sondern sie krümmt die Raumzeit. Die Gewichte bewegen sich weiterhin auf parallelen Bahnen - aber wegen der Krümmung der zweidimensionalen Ebene verkleinert sich ihr Abstand.
Die Krümmung einer zweidimensionalen Ebene können wir uns sehr gut auf der Oberfläche einer Kugel vorstellen. Diese hat andere geometrische Eigenschaften als etwa ein auf dem Tisch liegendes Blatt Papier. Das verdeutlicht die folgende Skizze:

Gekrümmter zweidimensionaler Raum: Anfangs parallel, dann nicht mehr
Foto: SPIEGEL ONLINEOben, quasi am Nordpol, befindet sich die große Masse als grüner Punkt. Beide am Äquator befindlichen Gewichte (schwarze Punkte) bewegen sich wegen der Gravitation Richtung Nordpol. Anfangs sind ihre Bahnen noch parallel zueinander - so wie Meridiane auf einem Globus am Äquator. Doch wegen der Krümmung der Kugeloberfläche rücken die Linien immer enger zusammen.
Diese Veranschaulichung beschreibt das Phänomen der Krümmung des zweidimensionalen Raumes und erfordert die dritte Dimension. Die Krümmung des dreidimensionalen Raumes hingegen können wir uns schon nicht mehr vorstellen, denn dazu bräuchten wir vier Dimensionen.
"Bei Isaac Newton bestand Physik aus einer Bühne und dort wirkenden Kräften, insbesondere der Gravitation oder Schwerkraft", erklärt Markus Pössel. Bei Einstein sei die Gravitation dagegen keine Kraft mehr, sondern eine Verformung der Bühne. Gravitation verzerre demnach Raum und Zeit.
Mit dieser Krümmung hat Einstein in seinen Gedankenexperimenten die Gravitation quasi weggezaubert. 1915 war das eine überraschende Neuerung in der Physik. Doch bis heute gilt Einsteins Theorie als nahezu perfekte Beschreibung der Welt.