Alte Schrift Wirbel um "Judas-Evangelium"
Er ist der Verräter des Erlösers und damit der ultimative Schurke des Christentums: Judas Ischariot, der Jesus per Kuss an seine römischen Feinde verraten und dafür 30 Silberlinge kassiert hat. Das jedenfalls steht im Neuen Testament, das die vier Evangelien enthält, die im 4. Jahrhundert nach Christus in den christlichen Kanon eingegangen sind. Seither werden sie von der Kirche zu einem Teil der "Heiligen Schrift" und mithin zum "Wort Gottes" erhoben.
Die Evangelien des Johannes, Matthäus, Markus und Lukas waren jedoch nur vier von zahlreichen Evangelien, die damals kursierten. Zu denen gehörte auch das "Judas-Evangelium", und das soll eine ganz andere Version enthalten: Der vermeintliche Verräter habe in Wahrheit als einziger Jünger die wahre Bestimmung Jesu erkannt. Jesus selbst habe Judas, gleichsam als letzten Gefallen, um den Verrat gebeten - um sich von seiner körperlichen Hülle befreien und seinen Daseinszweck erfüllen zu können.
Eine Kopie des "Judas-Evangeliums", das Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus entstanden sein soll, tauchte in den siebziger Jahren in Ägypten auf und geriet über einige Umwege in den Besitz der Schweizer Maecenas-Stiftung. Neben Theologen haben sich auch Verschwörungstheoretiker und Esoteriker eifrig mit dem Dokument und seinem angeblichen Inhalt beschäftigt. Am Donnerstag hat die National Geographic Society nun erstmals eine Übersetzung des Textes nach dessen Restaurierung veröffentlicht.
Auf großartige Neuigkeiten warteten die mit großem Tamtam vorab informierten Medien jedoch vergebens. Die Forscher unter Leitung des renommierten Genfer Koptologen Rodolphe Kasser konnten bei einer Pressekonferenz lediglich verkünden, was bereits bekannt war: nämlich dass das Judas-Evangelium die Rolle des Verräters umdeutet in die des selbstlosen Gehilfen Jesu. "Du wirst sie alle übertreffen. Denn du wirst den Menschen opfern, der mich kleidet", sagt Jesus nach Angaben der National Geographic Society in der wichtigsten Passage des Manuskripts.
Einblicke in die Geschichte des Christentums
Dass man nun den wahren Judas kenne, gar die Geschichte vom Tod Jesu umschreiben müsse und bald eine "Gegenbibel" kaufen könne, hat zwar vor einem Jahr ein Münchner Nachrichtenmagazin berichtet. Doch so weit mag keiner der sechs von der National Geographic Society aufgebotenen Experten gehen. Sie erwarten von dem jetzt vorliegenden Kodex nicht etwa neue Erkenntnisse über den historischen Judas - von dem nicht einmal sicher ist, dass er jemals existierte -, sondern vor allem neue Einblicke in die Geschichte des frühen Christentums.
"Durch die Wiederentdeckung einer antiken Schriftsammlung erhalten Experten die außergewöhnliche Möglichkeit, einen tieferen Einblick in die Gedanken und Anschauungen unserer Vorfahren zu gewinnen", sagte etwa Stephen Emmel, Koptologe an der Universität Münster. Der kanadische Neutestamentler Craig Evans glaubt, dass "diese Entdeckung einen wichtigen Einblick in das Wesen des Gnostizismus ermöglicht, wie er von frühchristlichen Anführern und Denkern diskutiert wurde und gegen den sich diese stellten".
Nicht an der Untersuchung beteiligte Fachleute äußerten sich ähnlich. Der Wuppertaler Theologe Thomas Söding hält das "Judas-Evangelium" religionsgeschichtlich für interessant, nicht aber für sensationell. "Der Text vermittelt uns keine neuen historischen Einsichten über den Apostel Judas oder den Kreuzestod Jesu", sagte der Professor für Biblische Theologie, der auch Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission ist. Der Text zeige nur "eine Facette der Frömmigkeit im 3./4. Jahrhundert innerhalb der religiösen Bewegung der Gnosis".
Fundgeschichte des Dokuments ungeklärt
Die höhere Erkenntnis - auf altgriechisch "gnosis" - hat Judas den Vorstellungen der frühen Gnostiker zufolge dazu befähigt, die wahre Bestimmung Jesu zu erkennen und entsprechend zu handeln. Zur Denkschule der Gnostiker gehörte auch die Vorstellung, Jesus sei ein Gott auf Erden, der lediglich in einer leiblichen Hülle stecke. Deshalb habe es auch nur eine Schein-Kreuzigung gegeben, bei der der göttliche Jesus sich seiner menschlichen Hülle entledigt habe. "Es geht um das damals kontrovers diskutierte Jesus-Bild", so Söding.
Der Schwachpunkt ist nach Meinung von Experten wie Söding oder des Baseler Theologen Ekkehard Stegemann die Fundgeschichte des Manuskripts. "Als dubios eingestufte Antikenhändler" hätten den Kodex jahrelang zum Kauf angeboten, schrieb Stegemann in der "Neuen Zürcher Zeitung". Als die Basler Maecenas-Stiftung den Text erwarb, sei er bereits in einem "deplorablen Zustand" gewesen.
Nach Angaben der National Geographic Society steht jedoch unumstößlich fest, dass der Text authentisch ist. "Der Kodex wurde in fünffacher Hinsicht als echte apokryphe Schrift identifiziert: Radiokarbondatierung, Tintenanalyse, multispektrale Bildverarbeitung, kontextuelle und paläographische Belege", hieß es.
Sollte das Dokument tatsächlich im 3. oder 4. Jahrhundert entstanden sein, hält es Söding für naheliegend, dass es sich tatsächlich um eine koptische Übersetzung des ursprünglich wohl in Griechisch verfassten "Judas-Evangeliums" handelt. "Das Besondere wäre, dass jetzt der Text erstmals vorläge."
Die in dem Dokument erkennbare gnostische Sichtweise der Dinge sei zwar nicht neu, "sie ist aber bislang nirgends so zugespitzt gefunden worden wie in dem 'Judas-Evangelium'". Eines enthalte das Dokument jedoch nicht: bisher unbekannte Worte Jesu, die als authentisch betrachtet werden könnten.
Markus Becker/dpa
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