Evolution Warum Menschen einander helfen

Wir helfen Wildfremden, die in Not sind - offensichtlich uneigennützig. Doch ganz so selbstlos ist die Hilfe nicht: Sie ist Teil des Erfolgsrezepts der Spezies Mensch.
Von Henning Engeln

Im Jahr 1976 erschien ein Buch, das seinen Autor mit einem Schlag berühmt machte. Der Titel: "Das egoistische Gen". Der junge britische Biologe Richard Dawkins hatte in dem Werk eine radikal neue Sicht auf die Evolution vorgestellt.

Seine Idee: Nicht nur das Individuum konkurriert im Sinne von Charles Darwin im Kampf ums Dasein, sondern jedes einzelne Gen ist darauf bedacht, sich zu behaupten. Nach Dawkins ist der Körper lediglich eine Überlebensmaschine, die den Genen hilft, sich zu vermehren.

Was allerdings im Herbst 2015 in Deutschland geschah, scheint so gar nicht zu dieser These zu passen. Nachdem Zigtausende Flüchtlinge in die Bundesrepublik geströmt waren, wurden sie von zahllosen Bundesbürgern versorgt, die sich ehrenamtlich und bis zur Erschöpfung für sie einsetzten.

Trifft die Evolutionstheorie also nicht auf den Homo sapiens zu - vielleicht, weil er über sich selbst nachdenken kann, weil er ethische Werte und Moralvorstellungen hat? Oder gibt es biologische Argumente, die verstehen lassen, warum wir nicht nur Egoisten sind, sondern kooperieren und anderen selbstlos helfen?

Auf Nachwuchs verzichten?

Leicht ist aus der Evolutionsperspektive zu verstehen, weshalb sich Verwandte gegenseitig begünstigen. Geschwister haben im Durchschnitt 50 Prozent ihrer Gene gemeinsam. Wer also Schwester oder Bruder und deren Kinder unterstützt, fördert damit auch die Verbreitung des eigenen Erbguts. Bei vielen Vogelarten zum Beispiel helfen erwachsene Nachkommen den eigenen Eltern dabei, weitere Küken  - also Geschwister - aufzuziehen .

Die Arbeiterinnen in einem Bienenstock verzichten sogar komplett auf eigenen Nachwuchs, kümmern sich stattdessen um die Eier der Königin. Da sie dank eines besonderen genetischen Systems 75 Prozent ihres Erbguts mit den Geschwistern teilen, vermehren sie gleichfalls massiv die eigenen Gene. Dass auch beim Menschen Verwandte gerne unterstützt werden, bezeugen Begriffe wie Vetternwirtschaft und die Redewendung "Blut ist dicker als Wasser".

Hilfreiche Symbiose

Daneben gibt es aber auch gute Gründe für eine Kooperation ohne genetische Bande - immer dann nämlich, wenn alle davon profitieren. Und das funktioniert sogar über Artgrenzen hinweg: Putzerfische etwa fressen die Parasiten größerer Fische; Erstere erhalten dadurch eine gute Mahlzeit, Letztere werden von lästigen Plagegeistern befreit.

Vielfach kooperieren auch Individuen derselben Art, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Wildhunde jagen im Rudel, Pelikane fischen zusammen, Paviane verteidigen gemeinsam ein Revier, Fische bilden Schwärme, um sich besser vor Räubern zu schützen.

Gerade beim Menschen aber sieht man häufig eine selbstlose Hilfsbereitschaft, die weder Verwandten gilt, noch dem Helfer einen Vorteil bringt, sondern ihm echte Opfer abverlangt. Forscher sprechen bei solch uneigennützigem Handeln von Altruismus und der ist nicht so einfach zu deuten. Am wahrscheinlichsten ist, dass ein Helfer dafür irgendwann später eine Gegenleistung erwartet nach dem Motto "Wie du mir, so ich dir". Und das kennen auch Tiere.

Vampirfledermäuse, die reichlich Blut saugen konnten, geben einen Teil ihrer Blutmahlzeit an Artgenossinnen ab, die bei der Nahrungssuche leer ausgegangen waren. Geraten sie später selbst einmal in Not, erhalten sie dann "Blutspenden" - vorwiegend von jenen, denen sie zuvor geholfen hatten.

Zurückhaltung gegenüber Biertrinkern

Raben, so fanden Wiener Biologen kürzlich heraus, merken sich sehr wohl, mit wem sie gut zusammengearbeitet haben - sogar, wenn es Menschen sind. In einem Experiment wiesen die Forscher nach, dass die Vögel eine Kooperation mit einem Versuchsassistenten verweigern, der sich ihnen zuvor unfair gegenüber verhalten hatte. Und das selbst, wenn die Begegnung bereits einen Monat lang zurück lag  .

Auch für Menschen ist Vertrauen bei der Zusammenarbeit wichtig. Wer sich kennt, hilft sich eher . Und wir sind eher nett zu jemandem, den wir für zuverlässig halten. An der Supermarktkasse lassen wir lieber einen Menschen vor, der nur eine Wasserflasche trägt als jemanden, der eine Bierflasche in der Hand hält, konnten Braunschweiger Psychologen in einem Experiment zeigen.

Die Deutung: Wir sind vor allem nett zu jenen, die wir selbst für hilfsbereit halten. Und in dieser Hinsicht genießt der Biertrinker weniger Vertrauen .

Ganz generell gilt: Wer häufig hilft und großzügig ist, erwirbt sich einen guten Ruf. Und der kann später durchaus einmal nützlich sein. Vermutlich ist vor allem das der Grund, weshalb wir anderen Menschen, die wir mitunter nicht einmal kennen, selbstlos unter die Arme greifen. Das alles sind sicherlich keine bewussten Überlegungen, doch steht dahinter letztlich die Hoffnung, in einer Notlage ebenfalls Hilfe zu erfahren.

Der Homo sapiens ist eine erstaunliche Mischung. Er kann sowohl selbstlos als auch egoistisch sein, kann sich zu Gruppen zusammenrotten und gegen seinesgleichen Kriege führen. Innerhalb weniger Jahrmillionen hat er sich von einem schwächlichen, wehrlosen Affen zum Beherrscher dieses Planeten entwickelt. Und das ist vor allem seiner Fähigkeit zur Zusammenarbeit zu verdanken. Denn der Mensch ist die kooperativste Spezies, die dieser Planet kennt.

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