Ansturm auf Himalaja Touristen in der Todeszone am Mount Everest
Nach eineinhalb Stunden Warten hatte Klaus Mees genug. Mühsam waren die letzten Stunden gewesen, in denen er sich mit schmerzender Lunge, gefrorenen Fingern und nah an der totalen Erschöpfung bis auf 8760 Meter hochgekämpft hatte. Dann endlich war er am letzten großen Hindernis angekommen, das ihn noch vom Gipfel des höchsten Bergs der Erde trennte: am Hillary Step, einer zwölf Meter hohen Eisstufe. 70 Grad steil, ist sie eine der wenigen Stellen, die ohne bergsteigerisches Können eigentlich nicht zu bewältigen sind.
Doch irgendwie schaffen es auch die Unerfahrenen. Vom Fuß der Felsstufe aus verfolgte Mees, wie Sherpas, einheimische Helfer, einen Menschen nach dem anderen über die gefährliche Stelle hievten. 15 Kunden kommerzieller Expeditionen wollten so den Engpass vor Mees überqueren. "Ein Sherpa zog vorn, ein anderer schob von hinten", erinnert sich Mees. Ein riskantes Unterfangen auch für die unten wartenden Bergsteiger.
Die mussten bei minus 40 Grad und eisigem Wind ausharren, in einer Höhe, die Bergsteiger "Todeszone" nennen. Knapp 8800 Meter über dem Meeresspiegel überlebt man selbst mit künstlich zugeführtem Sauerstoff maximal 48 Stunden. Drei Flaschen Sauerstoff hatte Mees dabei, das würde normalerweise für den Aufstieg zum Gipfel und wieder hinab reichen. Stundenlanges Warten war mit diesem Vorrat allerdings nicht drin. 50 Meter unter dem Gipfel kehrte Klaus Mees um. "Das war keine leichte Entscheidung", erinnert er sich zwei Jahre später.
"Langsame Bergsteiger sind eine Gefahr für alle", sagt der Münchner Arzt. Jährlich blockieren mehr von ihnen die Engstellen, weil sie der Belastung nicht gewachsen sind. "Das sind Touristen und keine Bergsteiger", sagt Mees. 55 Jahre nach der Erstbesteigung durch Edmund Hillary und Tensing Norgay ist der Mount Everest zum Ziel von Pauschaltouristen geworden. Bis zu 65.000 Dollar zahlen sie für die Hoffnung, später ein Foto von sich auf dem höchsten Punkt der Erde zeigen zu können. Oft scheitert dieses Vorhaben an der Höhenkrankheit, denn oberhalb von 2500 Metern kann der menschliche Körper den niedrigen Luftdruck ohne Training nicht mehr kompensieren. Um sich im Basislager am Mount Everest wohlzufühlen, muss man sich zwei Wochen akklimatisieren, der Körper bildet dann vermehrt rote Blutkörperchen.
Unerfahrene Touristen halten das oft für Zeitverschwendung und steigen zu schnell weiter auf. Die Folgen kennt Klaus Mees nur zu gut, denn als Höhenmediziner und Expeditionsarzt wird er gerufen, wenn jemand über starke Kopfschmerzen, Appetit- und Schlaflosigkeit klagt. Die Behandlung ist oft einfach: Der Kranke muss in tiefer gelegene Gebiete gebracht werden. Vom Basislager aus ist das logistisch noch gut möglich. Gefährlich aber wird es, wenn eine andere Form der Krankheit weiter oben am Berg auftritt.
"Immer wieder leiden auch erfahrene Bergsteiger darunter", sagt Klaus Mees. Die Betroffenen entwickeln Hirn- oder Lungenödeme, sind apathisch oder irren ziellos umher. Halb bewusstlos erfrieren sie im Schnee oder fallen in Gletscherspalten.
In seinen Untersuchungen hat Mees festgestellt, dass sich diese Art der Höhenkrankheit häufig durch einen Hörverlust ankündigt. Seitdem entwickelt er einen Test, mit dem sich die Krankheit rechtzeitig erkennen lässt. "Es kostet Überwindung, beim Bergsteigen wissenschaftlich zu arbeiten", sagt er. Doch seine Forschung könnte Leben retten. Viele Bergsteiger nämlich unterschätzen die Gefahr, welche die Höhe mit sich bringt, so eine Studie des Mainzer Sportmediziners Hans-Volkhart Ulmer. Er fragte erfahrene Bergsteiger nach der Höhenkrankheit. Nur die Hälfte konnte etwas zu Ursachen, Symptomen und vorbeugenden Maßnahmen sagen. Knapp 80 Prozent sahen in einem Aufenthalt in großer Höhe keine Gefährdung.
Insgesamt 3681 Mal haben Menschen den Weg auf den Gipfel des Mount Everest bislang geschafft. Zwei Drittel der Besteigungen fanden seit dem Jahr 2000 statt, allein im vergangenen Jahr gab es 629 Besteigungen. Dabei lässt das Wetter nur wenige Wochen im Frühjahr einen Aufstieg zu: Im Mai ist Rushhour am Mount Everest.
Die Massen hinterlassen ihre Spuren. Längst ist nicht mehr nur die Rede vom höchsten Berg, sondern auch von der höchsten Müllhalde der Welt. Geschätzte 50 Tonnen Abfall haben Bergsteiger am Mount Everest bislang zurückgelassen. Am Südsattel, kurz unterhalb des Gipfels, sind die bunten, vom Wind zerfetzten Zelte und leeren Sauerstoffflaschen inzwischen ein vertrauter Anblick. Die nepalesische Regierung versucht, das Müllproblem mit einem Pfandsystem in den Griff zu bekommen. Jeder Bergsteiger muss angeben, wie viele Flaschen er mitnimmt.
"Das wird aber nur halbherzig kontrolliert", sagt Mees. Jahr für Jahr ziehen Expeditionen nur los, um den Abfall vom Berg zu holen. Das Team des Japaners Ken Noguchi hat in den vergangenen acht Jahren über neun Tonnen Müll eingesammelt. Es ist aber nicht immer nur Rücksichtslosigkeit, wenn Bergsteiger ihre leeren Sauerstoffflaschen in der Höhe zurücklassen oft zwingt sie der pure Überlebenskampf dazu. Viele Bergsteiger können sich nach dem Aufstieg gerade noch mit fremder Hilfe ins nächste Lager schleppen. "Jeder Handgriff ist zu viel, man kämpft nur noch mit sich selbst", erzählt Mees.
Die Ausrüstung bleibt auch deshalb auf dem Berg, weil die Menschen selbst nicht zurückkehren. "Höhenbergsteigen ist Glückssache", sagt Mees. Der Wetterbericht in den Lagern sei so verlässlich wie Geschichten aus 1001 Nacht. "Irgendwann marschiert einer los, und alle laufen hinterher." Mit oft tödlichen Folgen. Als Mees vor vier Jahren nur noch 500 Höhenmeter bis zum Gipfel vor sich hatte, entschied er sich wegen eines aufziehenden Sturms zur Umkehr. Andere kletterten weiter und kamen nicht zurück.
210 Menschen sind bislang am Mount Everest gestorben, etwa die Hälfte von ihnen liegt noch auf dem Berg. Die Toten zu bergen, ist extrem gefährlich. "Auf 8000 Meter Höhe hat man noch ein Viertel der psychischen und physischen Leistungsfähigkeit. Man läuft da oben mit einem Tunnelblick und bekommt oft nicht mit, dass jemand in Not ist", sagt Mees. Vielen Bergsteigern fehlt schlicht die Kraft, Verletzte zu retten. "Wenn einer in der Todeszone schon bewusstlos ist, kann ich ihm als Einzelner nicht helfen, so bitter das ist", sagt der Münchner Arzt.
Doch auch wenn Bergsteiger oder -führer helfen könnten, jagen einige von ihnen vor allem dem eigenen Gipfelerfolg nach. Michael Kodas berichtet in seinem neuen Buch "Der Gipfel des Verbrechens" (Malik Verlag, 18 Euro) von einem Amerikaner, der während des Abstiegs vor Erschöpfung zusammengebrochen ist. Sein Bergführer und zwei Sherpas ließen den Sterbenden allein, stiegen hinab ins Lager und ruhten sich aus. Dann aktualisierte der Bergführer seine Homepage, dass er es auf den Gipfel geschafft hatte und informierte erst danach andere Bergsteiger und die Familie des Verunglückten. Als die Tochter des Amerikaners selbst nach Nepal reiste, um mehr über den Tod ihres Vaters zu erfahren, entdeckte sie, dass der Bergführer Lizenzen und Urkunden gefälscht hatte, damit er engagiert wird.
"Früher gab es so etwas wie eine Bergsteigerehre", sagt Mees. Damit sei es vorbei, seit der Berg zum Ziel des Massenhöhentourismus geworden ist. "Jeder weiß zum Beispiel, dass in den Lagern die Zelte geplündert werden. Ich lasse dort nichts Lebenswichtiges zurück."
Längst ist der Mount Everest nicht mehr nur eine sportliche Herausforderung, sondern vor allem ein Wirtschaftsfaktor. Mit dem Leichtsinn vieler, die sich den Berg vorgenommen haben, lässt sich eine Menge Geld verdienen. Neulinge kaufen oft keine fabrikneuen Sauerstoffflaschen, sondern aufgefüllte. Immer wieder kommt es vor, dass die mehrfach benutzten Ventile dieser Flaschen zufrieren oder undicht werden ein tödliches Risiko.
Klaus Mees will erst im nächsten Jahr wieder zum Mount Everest. Damit entgeht er dem höchsten Stau der Welt, der dieses Jahr wohl Rekordausmaße erreicht. Ein chinesischer Bergsteiger nämlich soll im Mai die olympische Fackel zum Gipfel tragen. Damit ihn keine Demonstranten stören, ist die Nordroute bis zum 10. Mai gesperrt, auch von nepalesischer Seite aus darf sich bis dahin niemand dem Gipfel nähern. Die Vorbereitungen für Expeditionen über die Südroute laufen gleichzeitig auf Hochtouren. Es wird also wieder eng am Hillary Step auch wenn es dort seit vergangenem Jahr erstmals eine Gegenspur für den Abstieg gibt.