Antarktis-Expedition Am Ende aßen sie Schlittenhunde
Wenn man eintritt, überwältigt einen der Geruch von Waltran, so berichten es Zeugen. Hier riecht nichts wie bei anderen archäologischen Ausgrabungen - kein Moder, kein trockener Staub. Nur Wal. 1913 ließen Douglas Mawson und seine Männer den Fischtran in der Holzhütte am Cape Denison in der Antarktis zurück. Nach zwei Wintern im Eis stiegen sie am 24. Dezember an Bord der Aurora und kehrten nach Hause zurück. Seitdem hat sich der Geruch in die Holzwände gesogen und zwischen die Seiten der Papierstapel gefressen. Erstaunlich, denn Geruch ist - archäologisch betrachtet das erste, was vergeht.
In den Hütten des Polarforschers Mawson unterscheidet sich vieles von anderen Ausgrabungsstätten. Allem voran das Terrain: Vier Kubikmeter Eis haben die Archäologin Anne McConnell und das Team der Mawson's Huts Foundation aus der Wohnhütte gekratzt. Das Eis ist alt. Es war einmal Schnee, der durch Ritzen und Löcher in die Hütte wehte, im Sommer taute und im Winter wieder gefror. Jahr für Jahr. Mit jedem Auftauen und Gefrieren wich mehr Sauerstoff aus dem Eis, es wurde härter, zu "blauem Eis". Eine 15 bis 30 Zentimeter dicke Schicht davon überzog den gesamten Boden, bevor McConnell ihre Arbeit begann.
Jetzt ist der Boden der Wohnhütte eisfrei - die wichtigste Konservierungsmaßnahme ist abgeschlossen. Denn das Klima vor Ort, am westlichen Ende der Commonwealth Bay, ist so trocken, dass alles organische Material von ganz alleine erhalten bleibt. Erst wenn Feuchtigkeit hinzukommt, beginnt der Verfall.
Douglas Mawson war kein Neuling im Eis, als er 1911 in die Antarktis aufbrach. Bereits von 1907 bis 1909 hatte er mit Ernest Shackleton den magnetischen Südpol gefunden und als erster Mensch den Mount Erebus bestiegen. Nach seiner Rückkehr versuchte ein anderer großer Polarforscher, Robert F. Scott, den jungen Geologen für einen ehrgeizigen Plan zu gewinnen: Er wollte als erster den Südpol erreichen. Glücklicherweise lehnte Mawson ab. Scott kam zwar am Südpol an, aber einen Monat nach Roald Amundsen. Und nach Hause sollte er auch nie mehr zurückkehren: Der Forscher und sein Team erfroren auf dem Rückweg, wenige Kilometer von einem Lebensmitteldepot entfernt.
Mawsons eigene Expedition war weniger ambitioniert, aber weitaus besser geplant. Er wollte jenen Teil der Antarktis erforschen und kartografieren, der direkt südlich seiner Heimat Australien lag. Auftraggeber war der junge Staat, der erst wenige Jahre zuvor die Unabhängigkeit von Großbritannien errungen hatte, und nun darauf brannte, mit eigenen Leistungen am Zeitalter der Entdecker teilzuhaben. Am 2. Dezember 1911 verließ Mawsons Aurora unter viel Jubel den Hafen von Hobart.
Cape Denison ist einer der windigsten Orte der Welt
Wie man Eis und Schnee bezwingt, hatte Mawson von Shackleton gelernt. Auch viele Mitglieder seiner Crew kannten das ewige Eis von vorherigen Expeditionen. Bald war das Basiscamp am Cape Denison errichtet. Eine Wohnhütte für die 18 Expeditionsmitglieder und drei weitere Hütten für wissenschaftliche Arbeiten sollten Mannschaft und Messinstrumente während der kommenden Monate vor Wind und Eis schützen. Inzwischen ist fast ein Jahrhundert vergangen.
"Die Identifizierung der wissenschaftlichen Geräte ist eine unserer Hauptaufgaben", beschreibt David Jensen, Direktor der Mawson's Huts Foundation die Arbeit auf der Grabung. "Die liegen über das ganze Gelände verstreut. Die einzelnen Teile zu finden und herauszubekommen, wozu sie einst gehörten, ist gar nicht so einfach." Die Unordnung hat der Wind in das Lager gebracht. Neben der Feuchtigkeit durch tauendes Eis ist er der größte Faktor der Zerstörung. Zwei der drei Gebäude hat er trotz der soliden Bauweise so weit zermürbt, dass sie kaum noch zu retten sind.
Mit dieser Urgewalt hatte auch Mawson nicht gerechnet. Cape Denison ist einer der windigsten Ort der Welt. Hier treffen sich die Eiswinde aus dem Inneren des Kontinents zu einem letzten Sprint, bevor sie auf das offene Meer hinausjagen. Die durchschnittliche Windgeschwindigkeit über das ganze Jahr verteilt liegt bei 70 Kilometern pro Stunde, das entspricht Windstärke acht. Mawson selber verzeichnete in seinen Unterlagen auch immer wieder tagelange Perioden, während derer die Winde ununterbrochen mit 160 Kilometern pro Stunde über das Eis jagten. Windstärke zwölf, die letzte Stufe auf der Beaufort-Skala, beginnt bei 118 Kilometern pro Stunde. Die schnellste Windböe, die Mawson messen konnte, fegte mit 320 Stundenkilometern über sein Camp hinweg.
Ein Tourist naschte den historischen Honig
Obwohl die Wetterbedingungen so extrem sind, darf David Jensen kaum einen Gegenstand aus den Hütten entfernen. "So verlangt es das australische Gesetz", erklärt er SPIEGEL ONLINE. Nur in Ausnahmefällen bekommt Jensen die Genehmigung, einen Teil für Restaurierungsarbeiten vorübergehend zu entfernen.
Jensens Traum ist es, ein kleines Museum zu bauen, in dem ausgewählte Stücke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. "Aber das Projekt liegt noch in weiter Ferne." Erstmal hat die Mawson's Huts Foundation ein kleines Behelfslabor errichtet, in dem die Wissenschaftler nun Gegenstände vor Ort restaurieren können.
Dass viele Touristen vorbeikommen, bleibt unwahrscheinlich. "Das Zeitfenster, in dem Cape Denison anschiffbar ist, öffnet sich nur für knappe drei Monate - zwischen Ende November und Anfang Februar", erklärt Jensen. Einige Reedereien laufen Cape Denison trotzdem mit ihren Kreuzfahrtschiffen an. Aber es besteht immer die Gefahr, dass selbst während des kurzen antarktischen Sommers ein schwerer Blizzard tobt und die Gäste das Schiff gar nicht verlassen können.
Ganz anders sieht es ein Stück weiter östlich auf Ross Island aus, wo einst Scott und auch Shackleton ihre Hütten erbauten. Beide Stätten werden von Neuseeland aus verwaltet und betreut. Hier ist das Wetter freundlicher, das ganze Jahr hindurch können Schiffe anlegen und Touristen zu den Zeugnissen der großen Polarexpeditionen bringen. "Die Hütten von Scott und Shackleton funktionieren fast wie ein richtiges Museum", sagt Jensen, und in seiner Stimme schwingt ein kleines bisschen Verachtung mit.
Die Popularität geht auf Kosten der Authentizität. Während in Mawsons Hütten alles noch weitestgehend so da liegt, wie der Forscher und sein Team es 1913 verlassen haben, kann man sich bei einem Besuch in den Quartieren der beiden anderen Polarforscher nie sicher sein. Ist das wirklich die Original-Dose, aus der Shackleton seine Kekse nahm? Ließ tatsächlich der Ornithologe Edward Wilson jenen präparierten Pinguin auf Scotts Tisch liegen? Oder wurde der ursprüngliche Vogel längst entsorgt und durch ein "schöneres" Tier ersetzt? Zugegeben, in Mawsons Hütte wurde auch einiges ersetzt. Aber mit äußerster Vorsicht, wie Jensen beteuert.
Die Lebensmittel in Mawsons Quartier sind jedenfalls noch jene, die das Team im Dezember 1913 in der Hütte zurückließ. Eine ordentliche Portion Seehund liegt da, ein paar verschrumpelte Kartoffeln, und sogar die letzten Flaschen Whiskey stehen noch im Regal. "Die haben nur ein klein wenig Rost angesetzt, sind aber sonst heil", sagt Jensen. Einige der Lebensmittel dürften immer noch genießbar sein. Das Mehl, der Senf oder der Honig wurden in der Kälte hervorragend konserviert. Irgendwann in den vergangenen Jahren muss ein Tourist das auf die Probe gestellt haben. "Plötzlich war da ein Fingerabdruck im Honigtopf, der definitiv noch nicht drin gewesen war, als wir 1997 unsere Arbeit aufnahmen", beschwert sich Jensen.
Ein ganz besonderes Zeugnis der fast unmenschlichen Leistung, die Mawson und sein Team erbracht haben: das Skelett eines Grönlandhundes. Die zähe Rasse ist eine Züchtung der Inuit. Die Tiere können nicht nur schwere Schlitten über weite Strecken durch unwegsames Gelände ziehen, ihr Fleisch dient auch traditionell in Notzeiten als Nahrung. Es waren diese Hunde, denen Mawson sein Leben verdankte. Bei einer Kartierungsexpedition stürzte der Hundeführer Belgrave Edward Sutton Ninnis mit dem Proviantschlitten und sechs Hunden in eine Gletscherspalte. Einen winselnden Hund konnten Mawson und ein Teamkollege noch retten. Ninnis und den Schlitten hatte der Gletscher verschluckt.
Rettung aus Aladins Höhle
Die beiden Männer machten sich ohne Proviant mit dem zweiten Schlitten auf den Rückweg. Als einer der verbliebenen Hunde am nächsten Tag vor Erschöpfung zusammenbrach, teilten sich die Männer und die fünf anderen Hunde das Fleisch. So ging es weiter, Hund für Hund, bis Mawsons Kollege ins Delirium fiel und starb. Lange glaubte man, sein Tod sei die Folge einer Vitamin-A-Vergiftung, die er sich beim Verzehr der Hundeleber zuzog.
Erst kürzlich machte Denise Carrington-Smith im Medical Journal of Australia plausibel, dass der Körper des radikalen Vegetariers die Umstellung auf eine Fleischdiät nicht verkraftet hatte. Am Ende war kein Hund mehr übrig, und Mawson zog den Schlitten allein. Ein Lebensmitteldepot, das Mawson und Ninnis im vorherigen August angelegt und "Aladins Höhle" getauft hatten, rettete ihm das Leben. Eine Woche später hatte er es geschafft. Mawson erreichte seine Hütte. Das Skelett des Hundes fand ein Expeditionsteam 1998 in den Weiten des Polarplateaus.
Und es gibt noch vieles zu finden. Zum Beispiel das Flugzeug, das Mawson mit in die Antarktis geschleppt hatte. Fliegen konnte es zwar schon seit einem Unfall bei einer Fundraising-Veranstaltung in Adelaide nicht mehr. Aber Mawson hoffte, es umgebaut zum Motorschlitten für den Transport größerer Lasten nutzen zu können. Leider ließ sich sein Plan nicht umsetzen. Bis in die siebziger Jahre war der Flugzeugkörper noch sichtbar, heute ist er nicht mehr auszumachen. "Das Metall erwärmt sich, wenn im Sommer die Sonne darauf scheint", erklärt Jensen das Verschwinden. "Dadurch schmilzt das umliegende Eis und das Flugzeug sinkt Stück für Stück tiefer." Das Flugzeug zu finden, ist David Jensens Projekt für den kommenden Sommer.