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Fragile Schätze: Gedanken aus einer vergangenen Welt

Foto: MASSIMO PINCA/ AP

Antike Schriften Jäger des verlorenen Wissens

Nur ein Prozent aller Schriften der Griechen, Römer und Ägypter soll die Zeiten überdauert haben. Bis heute suchen Forscher nach den Überresten der Bibliothek von Alexandria - und in Papyrusfragmenten nach Gedanken aus einer vergangenen Welt.
Von Dirk Husemann

Es war ein schwarzer Tag für Alexandria. Fetter Rauch quoll über den Hafen, Schreie und Kampfeslärm hingen über den Wassern, und der rote Hahn saß auf den Dächern der Stadt. Gaius Julius Cäsar war 47 v. Chr. von Rom an den Nil gekommen und hatte die Schiffe der Ptolemäer in Brand stecken lassen. Die Flammen fraßen sich durch die Gebäude am Hafen und zerstörten auch die Bibliothek von Alexandria und mit ihr das gesammelte Wissen der antiken Welt.

Eine heiße Geschichte, die aber mit der Wirklichkeit nur wenig gemein hat. Heute vermuten Historiker, dass die fatale Feuersbrunst von 47 v. Chr. das Museion, so der Name der gigantischen Bildungsstätte am Nildelta, gar nicht erreichte. Zwar mögen tatsächlich Tausende von Schriftrollen im Hafen verbrannt sein, doch es kann sich nur um Texte gehandelt haben, die in einem Lagerhaus auf den Verkauf warteten - Wissensschätze waren ein Exportschlager im alten Ägypten.

Die Bibliothek selbst stand im Palastviertel; sie war - in ihrer ursprünglichen Form - keine öffentliche Einrichtung, sondern ein Elfenbeinturm antiker Gelehrsamkeit, in dem die Weisen ihrer Zeit im Auftrag von Königen forschten und philosophierten. Ptolemaios I., Weggefährte Alexanders des Großen, hatte die Ideenwerkstatt 295 v. Chr. noch in hohem Alter gegründet. Seine Idee war bestechend: Das Wissen der Griechen sollte sich am Nil verbinden mit jenem Ägyptens und Asiens. Aus drei Zivilisationen, deren geistige Köpfe bis dahin kaum Kontakt miteinander gehabt hatten, sollte eine einzige gewaltige Kultur entstehen.

Der erste Bibliothekskatalog, das erste Ausleihsystem, das erste Literaturarchiv - die Menge der in Alexandria zusammengetragenen Werke aus Kunst und Wissenschaft machte neue Methoden des Bibliothekswesens nötig. Ungewöhnlich soll auch die Art und Weise gewesen sein, mit der wertvolle Papyri, zum Beispiel aus der Athener Akademie, nach Alexandria gelangten. Berichten der Griechen zufolge mussten alle Schiffe, die im Hafen festmachten, ihre mitgeführten Schriftrollen abgeben. Die Schreiber der Bibliothek kopierten diese und gaben den Eigentümern dann die Abschriften zurück. Die Originale aber blieben im Besitz der Alexandrier. Glaubt man einer anderen Anekdote, liehen sich die Ptolemäer griechische Klassiker für 15 Talente in Athen aus - und gaben sie nie zurück. Gemessen an der Bedeutung der Texte war der Preis lächerlich gering. Ob derartige Geschichten der Wahrheit entsprechen oder Propaganda der um ihren Ruf fürchtenden Griechen waren, bleibt offen. Fest steht: In Alexandria entstand die größte Bibliothek jener Zeit.

Diese Arche hellenistischer Gelehrsamkeit ging keineswegs von einem auf den anderen Tag unter, es war vielmehr ein langsamer Verfall. Ein Faktor, der den Prozess beschleunigte, war das Christentum. Überfälle christlicher Fanatiker auf die Bibliothek gelten heute unter Forschern als gesichert, nur um die genaue Datierung der Anschläge streiten Ägyptologen noch. Als bekanntes Datum in der Geschichte des Kampfes der Christen gegen spätantike Intellektuelle gilt das Jahr 415, in dem Mönche die Mathematikerin und Philosophin Hypatia gefangen nahmen und zu Tode folterten. Das Schicksal der Denkerin steht symbolisch für das der Bibliothek: Beide gehörten zur Antike und ihrer Götterwelt und passten daher nicht in das Weltbild der neuen Religion.

Vollends versiegte der Wissensquell am Nildelta aber erst im 7. Jahrhundert, als die Araber Alexandria eroberten. Zwar nährte das Gedankengut der Antike die arabische Gelehrtenschaft, mit der Zeit verschob sich die Hochkultur der Universitäten und Bibliotheken aber nach Osten auf die arabische Halbinsel. Dort konservierten die Araber die antiken Wissensschätze, bis sie infolge der Kreuzzüge und des damit einhergehenden Kulturtransfers im Hochmittelalter den Weg nach Mitteleuropa fanden. Das Museion war bis dahin in der Erinnerung der Menschen verblasst.

Welche Erkenntnisse in den Turbulenzen jener Ereignisse verloren gingen, ist heute nicht mehr zu ermessen. Als verschollen gelten beispielsweise Werke des Philosophen Sophokles; verschollen sind frühe Abschriften des Neuen Testaments auf Griechisch - Papyri und Pergamente, welche eine Offenbarung für die Bibelforschung darstellen könnten; verschollen sind auch Aufzeichnungen des Eratosthenes von Kyrene, jenem antiken Einstein, der als erster Naturwissenschaftler den Erdumfang berechnete. Insgesamt soll der Bibliothekskatalog Alexandrias 490.000 Rollen verzeichnet haben, das hielt im 12. Jahrhundert der byzantinische Gelehrte Johannes Tzetzes fest, der sich auf frühe hellenistische Quellen berief. Von diesem Fundus ist kaum noch etwas übrig. Nach Schätzungen des Historikers Nigel Wilson von der Oxford University überdauerte bis heute nur etwa ein Prozent aller Schriften der Antike.

Neues Licht auf altes Wissen fiel im November 2003, als der Archäologe Grzegorz Majcherek von der Universität Warschau die letzten Quadratmeter unbebauten Landes innerhalb der antiken Stadtmauern Alexandrias untersuchte. Die Existenz eines solchen Fleckens inmitten einer modernen Metropole ist ein Glücksfall. Napoleons Truppen hatten über dem antiken Boden eine Festung gebaut, die später von den Briten und Ägyptern genutzt und erweitert worden war. Erst in den 1950er Jahren hatte man das Bollwerk aufgegeben. Eine Ruine auf Ruinen, wie Majcherek in zehnjährigen Grabungsarbeiten in Alexandria herausfand. Unter den Festungsmauern kamen römische Villen mitsamt farbigen Mosaiken zu Tage - und ein Zeugnis für das Fortbestehen der Gelehrsamkeit.

Die älteste Universität?

Zunächst erkannte Majcherek nur eine Reihe rechteckiger Räume, jeder mit einem eigenen Eingang zur ehemaligen Straße und mit einer hufeisenförmigen Steintribüne in der Mitte. Bei Bekanntgabe der Entdeckung geisterte die Idee herum, die Bibliothek Alexandrias sei wiedergefunden. Bei einer Pressekonferenz in Kalifornien im Mai 2004 erklärte Zahi Hawass, Präsident der ägyptischen Altertumsbehörde, die Ruinen gehörten zu einer Bibliothek, vermutlich jener legendären Einrichtung, die als Wissenspool der antiken Welt galt: "Ein solcher Komplex von Lehrräumen aus der griechisch-römischen Zeit ist nie zuvor im Mittelmeerraum entdeckt worden." 5000 Studierende fanden in den Räumen Platz. "Vielleicht die älteste Universität der Welt", so Hawass.

Aber erst 2009 war die Struktur komplett freigelegt und die Verbindung zur legendären Bibliothek musste schließlich doch relativiert werden: Bei den Lehrsälen handelt es sich nicht um Teile des Museions, aber um eine ähnliche Einrichtung, die auf die Zeit um 500 n. Chr. datiert werden konnte. Das sagenumwobene Museion bleibt verschwunden.

Das Wissen der Antike scheint verloren. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass eine der Schriftrollen aus der Bibliothek von Alexandria bis heute überdauert hätte, wäre sie mittlerweile unlesbar geworden. Doch diese Hürde wüssten einige Forscher dank neuester Technik bereits zu nehmen. In Italien und den USA arbeitet eine Hand voll Experten derzeit daran, die größte Herausforderung der modernen Papyrologie zu meistern: Sie rekonstruieren verkohlte Schriftrollen aus Herculaneum (heute Ercolano) - jenem Ort am Golf von Neapel, den eine pyroklastische Wolke beim Ausbruch des Vesuv 79 n. Chr. gemeinsam mit Pompeji verschüttet hat.

Der Katastrophe ist zu verdanken, dass bis heute eine Momentaufnahme antiken Lebens festgehalten ist. Die einige hundert Grad Celsius heiße Glut ließ die in den Häusern der Herculaner liegenden Papyrusrollen zu schwarzen Würsten zusammendampfen - damit war das organische Material vor Verfall geschützt. Nach der Wiederentdeckung der Stadt im 18. Jahrhundert kamen annähernd 1800 Papyrusrollen zu Tage. Die schwarzen Klumpen lagen im Raum eines Gebäudes, das seither den Namen Villa dei Papiri trägt - eine Schatzkammer der antiken Wissenschaftsgeschichte.

Hitze und Dampf hatten den Dokumenten zwar stark zugesetzt, aber die Substanz ist noch erhalten. Das Problem: Wer den Text auf einem alten Papyrus lesen will, läuft Gefahr, ihn für immer zu zerstören. Das rein pflanzliche Material droht schon unter der leichtesten Berührung zu Staub zu zerfallen. Bei den Rollen aus Herculaneum kommt die Schwierigkeit hinzu, die verkohlten Reste nicht einfach aufrollen zu können. Und selbst, wenn das vereinzelt gelingt, gibt es nur wenig zu lesen. Papyrus besitzt die Eigenschaft, im Lauf der Jahre nachzudunkeln. Zugleich wird die Tinte - in der Antike meist aus Ruß angerührt - blasser. Wo sich Schriftzeichen erhalten haben, sind sie mit dem bloßen Auge nicht erkennbar, selbst unter dem Mikroskop offenbaren sich meist nur noch Fragmente von Buchstaben, Wörtern und Sätzen.

So sind der wissenschaftlichen Neugier bereits unzählige Papyri zum Opfer gefallen. Die meisten Gelehrten, die versuchten, die zusammengebackenen Wülste zu öffnen, scheiterten - mit verheerenden Resultaten. Die Forscher des 18. und 19. Jahrhunderts waren den Rollen mit Leim oder Quecksilber auf die Pelle gerückt, in der Hoffnung, das Material wieder geschmeidig machen und abrollen zu können. Als das nicht funktionierte, griffen sie zum Messer, zerschnitten die Papyri und höhlten sie von Innen aus, bis genug Raum war, um beim Hereinblicken das Innere der äußeren Schichten erkennen zu können. Dutzende der einmaligen Funde wurden dabei zerstört.

Heute kursieren solche Methoden freilich nur noch als Schauergeschichten unter Papyrologen. In den 1980er Jahren entwickelten die Norweger Knut Kleve und Brynjulf Fosse von der Universität Oslo eine Technik, bei der eine leimartige Substanz auf die Rollen aufgetragen wird, die den Papyrus durchdringt. Nach einer Weile festigt sich das Material und lässt sich vorsichtig abrollen.

Auch beim Entziffern der schwarzen Seiten wurden enorme Fortschritte erzielt: Den Augen der Papyrologen kommt seit einigen Jahren die Infrarottechnik zu Hilfe. Physiker von der Università degli Studi di Milano entwickelten eine hochauflösende Digitalkamera, die mit Hilfe von Infrarotstrahlen Linien und Zeichen erkennt, die das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann. Dabei absorbieren die mit Rußtinte geschriebenen Lettern die Strahlen, während der Papyrus sie reflektiert. Auf diese Weise werden sogar überschriebene Zeichen und Korrekturen wieder sichtbar, wie sie in antiken Schreibstuben an der Tagesordnung waren.

Dank dieser Verfahren wurden mittlerweile über 150 Funde aus Herculaneum wieder lesbar gemacht. Darauf entzifferten die Forscher bis dahin unbekannte Texte des Philosophen Philodemos von Gadara (um 110-40 v. Chr.). Sie gewähren Einblick in die noch ältere Schule des Zenon von Elea - eines berühmten Denkers aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., welcher als Erfinder der bis heute grundlegenden philosophischen Methode gilt: der Argumentation. Philodemos war überdies ein Bekannter von Vergil, Cicero, Lukrez und anderen heute noch prominenten antiken Zeitgenossen. Ob sich Einflüsse dieser Gelehrten in den wiederentdeckten Texten aufspüren lassen, müssen altphilologische Analysen aber erst noch zeigen.

Die neuen Techniken wecken die Hoffnung, das vermeintlich verlorene Wissen aus Alexandria eines Tages wieder ans Tageslicht holen zu können. Doch ist sie berechtigt? "Wohl kaum", meint Andrea Jörgens, Direktorin des Instituts für Papyrologie in Heidelberg. "In Alexandria herrscht Seeklima, da vergehen Papyri schnell. Überdies ist die Stadt seit Jahrhunderten immer wieder überbaut worden." Andernorts sind die Aussichten größer. "Im trockenen Hinterland Ägyptens finden wir immer wieder Papyri", sagt Jörgens. Einige davon können ihrer Meinung nach mit der Schreibkultur der Metropole in Zusammenhang gebracht werden - darunter alexandrinische Hochpoesie aus Oxyrhynchos, einer altägyptischen Stadt und Grabungsstätte am mittleren Nil. "Es ist vorstellbar, dass jemand im Altertum Kopien solcher Texte in Alexandria entlieh und mit nach Hause nahm, aber sie nie wieder zurückbrachte", vermutet die Forscherin.

Zu den großen Erfolgen der Suche zählt die Entdeckung von Werken des Poseidipos, eines Epigrammdichters, der bislang nur dem Namen nach bekannt war. Auch der Fall des antiken Geografen Artemidor von Ephesus gehört zu den Meilensteinen der Papyrusforschung. Wie viele seiner Zeitgenossen wirkte auch er um 100 v. Chr. in Alexandria, wo seine Arbeiten in der Bibliothek archiviert waren - und später untergingen. Das mehrbändige Werk Artemidors war nur noch aus Zitaten anderer antiker Gelehrter bekannt. Bis vor etwa zehn Jahren die Papyrologin Bärbel Kramer von der Universität Trier Reste eines Papyrus entdeckte, der aus dem Kunsthandel kam. Er war Teil einer antiken Mumienmaske und vermutlich als Füllmaterial verwendet worden. Schäfer und ihr Mailänder Kollege Claudio Gallazi puzzelten die Schnipsel zusammen. Vor zwei Jahren präsentierten sie das Ergebnis: eine Landkarte des Artemidor und damit die älteste erhaltene Karte des klassischen Altertums.

Die Aussichten, solche Schätze zu finden sind jedoch gering. "Nur fünf Prozent der gefundenen Texte sind Literatur", erklärt Andrea Jörgens, "die übrigen Funde sind Papyri mit Alltagstexten." Darunter verstehen die Forscher Quittungen, Rechnungen, Privatbriefe und Handelslisten - wichtige Zeugnisse für die Rekonstruktion antiker Lebensverhältnisse, von der romantischen Sehnsucht nach verlorenen Wissensschätzen jedoch weit entfernt. Einer, der das mit Inbrunst beklagte, war Johann Joachim Winckelmann. Der Ahnherr der Kunstgeschichte und Archäologie erwartete, in den Rollen aus Herculaneum Hochkaräter wie Aristoteles, Sophokles oder Euripides wiederzufinden. Als stattdessen ein Traktat über die Musik des bis dahin noch unbekannten Philodemos entziffert werden konnte, seufzte Winckelmann: "An einer hypochondrischen und zerstümmelten Klage wider die Music ist uns nicht viel gelegen."

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