Wikinger in Nordamerika Die Spur der Schnüre

Wieso nutzen Ureinwohner vor Kanada und Wikinger-Bauern auf Grönland ähnliche Schnüre? Eine Archäologin meint: Die Nordmänner trieben vor Jahrhunderten regen Handel quer über den Atlantik. In der Kälte von Baffin Island sucht sie nach Spuren eines Postens der Wikinger.
Von Heather Pringle

Irgendetwas stimmt nicht mit diesen Schnüren. Das fällt Patricia Sutherland gleich auf. Sie sehen rau aus und fühlen sich doch ganz weich an. Die Bänder stammen aus einer verlassenen Siedlung an der Nordspitze der kanadischen Baffin Island, weit nördlich des Polarkreises.

Es ist im Jahr 1999, als die Polararchäologin die Schnüre unter dem Mikroskop untersucht. Besonders erstaunt ist sie über deren Struktur. Die Ureinwohner von Baffin Island konnten weder spinnen noch weben. Sie nähten ihre Kleidung aus Tierhäuten und Fellen. Woher kam dann die gesponnene Wolle?

Einige Jahre zuvor hat Sutherland bei den Ausgrabungen eines Wikinger-Bauernhofs in Grönland geholfen, wo ähnliche Reste von Bändern gefunden wurden. Einige Wochen später erfährt sie von einem Experten für Kleidung der Wikinger, dass die kanadischen Fasern dem Material aus Grönland gleichen. "Es verschlug mir den Atem", erinnert sie sich.

Die Entdeckung wirft spannende Fragen auf. War eine Gruppe nordischer Seefahrer an der entlegenen Inselküste gelandet? Sind die Schnüre der Schlüssel zu einem wenig bekannten Kapitel der frühen gemeinsamen Geschichte Europas und Amerikas?

Die Siedlung auf Baffin Island hat Patricia Sutherland nie losgelassen. Im sanften Morgenlicht steigen sie und ihre Mitarbeiter einen steinigen Pfad hinab in das Tanfield Valley. Die Wikinger nannten diese Gegend Helluland: "Steinplattenland". Lange vor ihrer Ankunft hatten Ureinwohner hier schon eine Siedlung gebaut, bekannt als Nanuk.

Die Nomaden der Arktis

Nachdem das Garn vor anderthalb Jahrzehnten die Neugier der Wissenschaftlerin geweckt hatte, machte sie sich im Depot des Canadian Museum of Civilization auf die Suche nach Artefakten der als Dorset-Kultur bekannten Nomaden der Arktis. Die Jäger lebten fast 2000 Jahre lang an den arktischen Küsten, bis sie Ende des 14. Jahrhunderts verschwanden.

Sutherland untersuchte mehrere hundert vermutlich aus der Dorset-Kultur stammende Objekte, viele auch unter dem Mikroskop. Je weiter Sutherland in die alten Dorset-Sammlungen vordrang, desto mehr Belege fand sie dafür, dass Wikinger an dieser Küste gelandet waren, beispielsweise fast 30 traditionelle nordische Wetzsteine, die zur Standardausrüstung der Nordmänner gehörten, außerdem Schnitzereien mit europäisch wirkenden Gesichtern. Die Objekte verweisen auf friedliche Beziehungen zwischen Dorset-Jägern und den Wikingern, doch Sutherland wollte weitere Belege aus dem Tanfield Valley.

In Sedimenten aus den Mauern fanden Sutherland und ihre Kollegen winzige Fellteilchen. Die Analyse ergab, dass sie zu einer europäischen Rattenart gehörten. Wahrscheinlich waren die Nagetiere per Schiff in die Arktis gelangt. Sie fanden auch ein Fundament aus großen Steinen, die offenbar von jemandem geformt wurden, der sich mit nordischer Steinmetzkunst auskannte. Die Größe des Gebäudes, die Art der Wände und eine mit Steinen ausgelegte Abflussrinne entsprechen der Ausstattung grönländischer Wikingerbauten. An einer Stelle riecht es immer noch nach Latrine. Am Boden hat ein Archäologe handgroße Moosstücke freigelegt, die den Wikingern als Toilettenpapier dienten. "Die Menschen der Dorset-Kultur blieben nie lange an einem Ort und bauten deshalb keine Toiletten", erklärt Sutherland.

Aber weshalb hielten sich die Wikinger auf diesem windumtosten Zipfel von Helluland lange genug auf, um Gebäude zu errichten? Offenbar weil sie wertvolle Handelsgüter fanden.

Die Wikinger, die vor tausend Jahren die nordamerikanische Küste erkundeten, suchten vermutlich dort nach Handelspartnern. In einem von ihnen als Vinland bezeichneten Gebiet in Neufundland begegnete man den Neuankömmlingen feindselig. Die Ureinwohner waren gut bewaffnet und betrachteten die Fremden als Eindringlinge.

Die wahren Geschäftsleute des Polargebiets

Doch in Helluland erkannten die kleinen nomadischen Gruppen von Dorset-Jägern eine Chance und hießen die Fremden willkommen. Sie besaßen nur wenige Kampfwaffen, waren aber meisterliche Walrossjäger und Fallensteller. Sie fingen Pelztiere, aus deren weichen Fellhaaren sich feinstes Garn spinnen ließ. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Menschen der Dorset-Kultur leidenschaftliche Händler waren. "Sie können als die wahren Geschäftsleute des Polargebiets gelten", sagt Sutherland.

Die Wikinger hatten von den Ureinwohnern wenig zu fürchten. Im Tanfield Valley errichteten sie offenbar ein saisonales Lager. In der Region gab es Schneefüchse im Überfluss. Die Fremden verfügten über zwei ausgesprochen attraktive Güter im Tausch für die Pelze: Holzstücke zum Schnitzen und kleine Metallbrocken, die man zu Messern fertigen konnte. Der Handel mit Pelzen und anderen Luxuswaren florierte anscheinend. Archäologische Befunde zeigen, dass einige Familien nur einen Steinwurf von der Wikingersiedlung entfernt lebten und dort Tierfelle präparierten.

In der Archäologie geht es stets um Deutung von Funden. Wie bei der Entdeckung von L'Anse aux Meadows vor vier Jahrzehnten wird der Weg bis zur Anerkennung auch diesmal schwer und langwierig sein. Aber Patricia Sutherland ist fest entschlossen, die Zweifler zu überzeugen. Sie zieht sich das Moskitonetz übers Gesicht und gräbt weiter. "Wir werden hier noch viel mehr finden", sagt sie und lächelt.

Gekürzte Fassung aus National Geographic Deutschland, Ausgabe November 2012, www.nationalgeographic.de 

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