Archäologie in der Arktis Extrem-Grabung im Antlitz von Eisbären
Eine archäologische Ausgrabung in der arktischen Tundra hat ihre Tücken. Manchmal zum Beispiel wird ein Eisbär neugierig. "Dann versuchen wir, ihn mit Schreckschüssen zu vertreiben", erzählt Anne Jensen im selben Plauderton, in dem andere von Wespenbesuch bei ihrem Picknick im Park an einem lauen Sommerabend berichten. "Und wenn er nicht gehen will, nun, dann packen wir unsere Sachen und ziehen uns für eine Weile zurück."
Weil ihre Leute sich aber auf die Artefakte im Boden und nicht auf Eisbären konzentrieren sollen, ist Jensen dazu übergegangen, Bärenwächter aufzustellen. Den Job, wie fast alle anderen Arbeiten auf der Ausgrabung auch, erledigen Schüler der lokalen High School. "Das sind Iñupiat. Die wissen, wie man mit einem gelegentlich herumstreifenden Bären umgeht", versichert sie im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
Jensen gräbt dort, wo die Welt zu Ende ist. Oder zumindest die Vereinigten Staaten von Amerika, an ihrem nördlichsten Punkt in Alaska, bei 71°23'20 N, 156°28'45 W. Von Point Barrow bis zum Nordpol sind es nur noch 2078 km. Um die Spitze der schmalen Landzunge branden im Westen die Brecher der Chukchi See, im Osten diejenigen der Beaufort See. Vor einem knappen Jahrzehnt bekam die Archäologin, die für die in Barrow ansässige Ukpeagvik Iñupiat Corporation arbeitet, einen aufgeregten Anruf. Die Wellen hätten an der Spitze der Landzunge menschliche Knochen freigewaschen. Jensen fuhr hinaus, in Begleitung der Polizei. Doch ein kurzer Blick genügte, und die Polizisten konnten wieder heimfahren. Die Knochen waren alt. Bestattet vor mindestens 1000 Jahren. Damit begann Jensens Job: ihr Kampf gegen Wellen, Permafrost und Eisbären.
Mittelalter-Technik schlägt moderne Aluminiumboote
Dass an der Landspitze archäologische Reste liegen, ist schon lange bekannt. Denn bis in das vorige Jahrhundert hinein war die Iñupiat-Siedlung Nuvuk sogar noch bewohnt. Die Marker der jüngsten Gräber des Dorffriedhofes ragen im Sommer aus dem Boden, beliebtes Ziel für Einheimische und Touristen auf der Suche nach ungewöhnlichen Souvenirs. Was die Besucher nicht plünderten, zerstörte die Regierung beim Bau einer Abschussrampe für Nike Cajun und Nike Apache Raketen in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Später kam der Mast einer Wetterstation dazu. Und Jahr für Jahr holen sich die Wellen etwa 20 Meter der bröckeligen Landkante. "Die Stätte ist wahrlich keine Schönheit", beschreibt Jensen ihren Arbeitsplatz.
Umso außergewöhnlicher sind die Funde. Die Gräber am äußersten Ende, ist sich die Ausgräberin inzwischen sicher, gehören zu den frühesten der Thule-Kultur in Alaska. Die beherrschte im späten ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung die Region. Die Thule jagten Wale aus den umiat heraus; große fellbespannte Boote, in denen bis zu 20 Leute Platz fanden. So ausgefeilt ist die Bauweise der umiat, dass sie bis in die Neuzeit im Gebrauch sind. "Die neumodischen Aluminiumboote kann man bei der Jagd im Eis nicht benutzen, weil die Geräusche des Wassers an den Bootswänden den Wal erschrecken", erzählte der Walfänger Kapitän Burton "Atqaan" Rexford, einst in Nuvuk geboren, noch 1997 für eine geschichtliche Dokumentation.
Aber auch gemütliche Häuser schaffte sich das Volk der Thule. Eine Neuerung in der Bautechnik ermöglichte es damals zum ersten Mal, größere Räume für Versammlungen zu errichten. Vor den winterfesten Behausungen fingen nun lange Eingangstunnel die Kälte ab. "Als Baumaterial dienten Walknochen, vor allem die Rippen und die Kiefer", erklärt Anne Jensen. Walknochen mussten bei den Thule so ziemlich für alles herhalten, für Häuser ebenso wie für einfache Sargkonstruktionen. Ein Thule wurde zwischen Walknochen geboren und oft auch zwischen Walknochen wieder bestattet. Sogar Teile von Rüstungen aus den Barten der Bartenwale hat Jensen gefunden.
"Als ob man Margaritas trinkt"
Das älteste Grab ihrer Ausgrabung ist datiert zwischen 875 und 1005 unserer Zeitrechnung. "Aber wir wissen nicht, wie viele ältere Bestattungen bereits in die See gewaschen wurden." Denn die Thule siedelten dicht an der Küstenlinie, so dicht an den Walen wie möglich. Ihre Gräber jedoch legten sie im Landsinneren an, auf höher gelegenem Boden. Wenn die See nach fünf oder mehr Generationen die Häuser bedrohte, wurde die Siedlung nach hinten verlegt direkt auf die alten Gräber, deren Existenz man lange vergessen hatte. Anne Jensen hofft, mit den Funden von Nuvuk endlich die Frage nach der Herkunft der Thule zufriedenstellend klären zu können. "Es gibt immer noch Leute, die behaupten, die Thule wären aus dem Osten hierher eingewandert", beschwert sie sich. "Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Die kamen von hier."
Der arktische Sommer ist kurz. Mit Glück hat Anne Jensen jedes Jahr zehn Wochen lang Zeit, die nächsten Meter Küstenlinie archäologisch zu untersuchen. Die Arbeitstage aber sind dann lang, denn die Sonne geht nie unter. Wenn sie kurz nach Mitternacht am 10. Mai aufgeht, bleibt sie erstmal bis zum 2. August am Himmel stehen. Dann endlich steigen im Juni die Durchschnittstemperaturen auf zwei Grad Celsius an. Genug, um die oberste Schicht des Permafrostes aufzutauen.
Schon Anfang August aber machen die Herbststürme selbst den Iñupiat die Arbeit auf der Grabung zu ungemütlich. Wenn die Gischt an der Abbruchkante der Landspitze aufschäumt, ist die Luft voll Salz. "Auf den Lippen ist dann so eine dicke Salzkruste, als ob man Margaritas trinkt." Dann muss Anne Jensen die Grabung aufgeben und hoffen, dass die Brecher ihr über die langen Wintermonate nicht wieder mehr Gräber nehmen, als sie in diesem Sommer dokumentieren konnte.