Christian Stöcker

Armbinden-Debatte Als Deutschland noch ein fanatischer Gottesstaat war

Christian Stöcker
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Hört man die Debatte über Homosexuellenrechte in Katar, über Armbinden und Regenbogenflaggen, könnte man zu einem völlig falschen Schluss kommen: Bei uns ist alles super, schon ewig. Das Gegenteil stimmt.
Fanproteste in der WWK Arena in Augsburg gegen WM in Katar: Längst nicht alles erreicht

Fanproteste in der WWK Arena in Augsburg gegen WM in Katar: Längst nicht alles erreicht

Foto:

MIS / IMAGO

Gesellschaftlicher Fortschritt hat eine eigentümliche Eigenschaft: Wenn er erst einmal stattgefunden hat, haben alle plötzlich das Gefühl, als sei doch alles doch schon ewig so, und sie selbst seien immer dafür gewesen.

Der auf die Messung gesellschaftlichen Fortschritts spezialisierte Soziologe Heinz-Herbert Noll hat einmal geschrieben : »Aus der Retrospektive gesehen, wird daher von Fortschritt gesprochen, wenn die gegenwärtigen Lebensverhältnisse im Vergleich mit der Vergangenheit als Verbesserung betrachtet werden«.

Nun ist gesellschaftlicher Fortschritt nicht für alle Menschen jederzeit gleichermaßen erfahrbar. Für diejenigen aber, die er aktuell persönlich betrifft, ist er alles andere als abstrakt. Für diejenigen, die es schon besser haben, wirkt er womöglich sogar lästig, ja bedrohlich.

Das Geschwätz von der »Entartung des Volkes« – noch 1962

Wenn man zum Beispiel als schwuler Mann in Deutschland im Jahr 1968 lebte, konnte es einem passieren, dass man aufgrund des eins zu eins aus der Nazizeit übernommenen Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Wegen »Unzucht«.

In der schönen, demokratischen Wirtschaftswunderbundesrepublik wurden bis 1969 noch 50.000 Männer auf Basis des Nazi-Paragrafen verurteilt. Erst seit 2016 gibt es Entschädigungen für Betroffene. In der DDR fiel Paragraf 175 schon 1968. Diskriminiert und ausgegrenzt wurden Schwule und Lesben trotzdem.

Noch unter Helmut Kohl

Als ab Ende der Fünfzigerjahre darüber verhandelt wurde, das Strafgesetzbuch zu reformieren, landete in der Begründung zu einem Entwurf aus dem damals CSU-geführten Justizministerium unter anderem die Einschätzung, dass durch die »gleichgeschlechtliche Unzucht« weiterhin »die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kräfte« drohten.

Unter den Nazis landeten bekanntlich viele Zehntausend Homosexuelle in Konzentrationslagern. Nicht viele überlebten. Der eben zitierte Satz stammt aber aus einer Bundestagsdrucksache  von 1962.

In zwischenzeitlich endlich doch abgeschwächter, aber weiterhin skandalöser und von Ressentiment statt Fakten geprägter Version existierte Paragraf 175 in der BRD noch bis 1994 weiter. Noch unter Helmut Kohl verteidigte ihn die Union mit der absurden und anti-wissenschaftlichen Begründung, dass Schwule sonst verwirrte Jugendliche vom vermeintlich rechten Weg abbringen könnten.

Die Rolle der »öffentlichen Religionsgemeinschaften«

Umso erfreulicher ist es vor diesem Hintergrund, dass sich die deutsche Öffentlichkeit nun, Fußball sei Dank, so intensiv für die Rechte nicht heterosexueller Menschen in Katar interessiert. Oft ist dabei von der reaktionären Wirkung des Islam die Rede.

Aus religiösem Fanatismus wurden aber auch hierzulande Homosexuelle unterdrückt und kriminalisiert, noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das westdeutsche Bundesverfassungsgericht fand noch 1957 , bei Auslegung des sogenannten Sittengesetzes mit Blick auf die Strafbarkeit von Homosexualität müsse berücksichtigt werden,

»dass die öffentlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen«.

Diese und viele andere fassungslos machende Details kann man übrigens einer sehr lesenswerten Aufarbeitung des LSVD entnehmen .

In der Urteilsbegründung  von 1957 stehen auch Sätze über weibliche Sexualität, die einem heute die Haare zu Berge stehen lassen – und Sätze über angeblich »biologisch« angelegte Verhaltensweisen und die »körperliche Bildung der Geschlechtsorgane«, die man beim Thema trans Menschen auch heute noch genauso zu hören bekommt.

Fanatischer Gottesstaat

Aus Sicht von schwulen und lesbischen Menschen war die junge Bundesrepublik ein fanatischer, repressiver Gottesstaat. Aus der von trans Personen natürlich auch, aber von denen war damals noch gar keine Rede.

Über unsere eigene, extrem unrühmliche Geschichte in dieser Sache Bescheid zu wissen, hilft dabei zu verstehen, warum für viele LGBT-Menschen von so großer Bedeutung ist, ob der Kapitän der Nationalmannschaft nun eine bestimmte Armbinde trägt oder nicht.

Ein Prozess, kein Ereignis

Nun ist Fortschritt kein Ereignis, sondern ein Prozess. Er geht, im Idealfall, immer weiter. Deutsche Politikerinnen und Politiker, die jetzt stolz darauf sind, dass die deutsche Innenministerin die One-Love-Armbinde ins Stadion trug, haben den bereits erfolgten gesellschaftlichen Fortschritt schnell und geräuschlos in ihr Deutschlandbild eingebaut. Und doch stimmten noch im Jahr 2017 225 Abgeordnete der Unionsparteien gegen die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehen.

Die AfD lehnt die Ehe für alle weiterhin ab und will sie wieder abschaffen , war 2017 aber nicht im Bundestag.

Manchen geht es immer zu schnell oder zu weit

Aber auch die Bayerische Staatsregierung und viele Unionsabgeordnete wollten gerne gegen die »Ehe für alle« klagen. Sie entschieden sich erst dagegen, als Gutachter 2018 zu dem Schluss kamen, dass so eine Klage aussichtslos wäre . Das ist erst vier Jahre her.

Jetzt ist CSU-Chef Markus Söder »besorgt und empört wegen der kritischen Menschenrechtslage in Katar«, und wegen der »Homophobie«, die Katars WM-Botschafter »ganz offen« geäußert habe.

Was man »nicht mehr sagen darf«

Selbstverständlich existiert offene Homophobie auch in Deutschland bis heute, nur bekommt man mittlerweile unter Umständen Ärger, wenn man sie allzu öffentlich auslebt, gerade als Politiker. Und wenn es diesen Ärger dann gibt, regen sich bestimmte Kreise auf, dass man ja so viel »nicht mehr sagen« dürfe.

So war das zum Beispiel, als Friedrich Merz im Jahr 2020 Homosexuelle in guter Unionstradition in die Nähe von Pädophilen rückte. Merz reagierte auf den Ärger, die das zu Recht auslöste, mit einer Pseudoentschuldigung – und klagte im gleichen Atemzug über die »Empörungsmaschine« , die seine natürlich absichtlich empörende Äußerung in Gang gesetzt habe. So wird der Täter zum Opfer.

»Damit der Schwachsinn nicht zur Mode wird«

Der Kampf für eine Welt, in der wirklich alle, unabhängig von Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung, gleich behandelt werden, ist noch längst nicht zu Ende. Es gibt gesellschaftliche Gruppierungen, die den Fortschritt weiterhin erbittert bekämpfen.

Rückblickend finden die gleichen Leute den Fortschritt am Ende oft völlig okay, wenn auch massiv verzögert. Der Zusammenschluss lesbischer und schwuler Menschen in der Union beispielsweise wurde erst vor gut zwei Monaten als offizielle Parteiorganisation , als sogenannte Sonderorganisation anerkannt.

Nur gut zwanzig Jahre vorher hatte der ehemalige rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, der erzkatholische Norbert Geis (CSU) schriftlich erklärt , es dürfe »in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck entstehen (…) als sei es richtig, wenn junge Menschen sich für eine solche Lebensform entscheiden«. Homosexualität sei eine »Perversion«, gegen die »Widerspruch laut werden« müsse, »damit der Schwachsinn nicht zur Mode wird«. Geis saß bis 2013 im Bundestag.

Und jetzt halt gegen »woke«

Vor diesem Hintergrund muss man die weiterhin laufenden Abwehrkämpfe, die kulturkämpferischen Attacken auf »Wokeness«, »Gender-Gaga« und so weiter sehen: Sich einerseits stolz in die Brust zu werfen, weil man es den hinterwäldlerischen Katarern jetzt aber mal so richtig zeigt bei der WM, während man hierzulande gleichzeitig gegen die nächsten Schritte in Richtung echter Anti-Diskriminierung kämpft, indem man sich Schimpfwörter dafür bastelt, ist so selbstentlarvend wie heuchlerisch. Es ist Wahlkampf mit Ressentiment als Angebot, mehr nicht.

Mittlerweile ist man etwas vorsichtiger geworden und tut so, als sei man nicht gegen die Anliegen an sich – sondern nur gegen alle Verbesserungsvorschläge und diejenigen, die sie vorbringen.

Erst abgelehnt, dann eingemeindet

Auch der nun Homophobie verdammende Markus Söder hat, wie viele seiner Unionskolleginnen und -kollegen , keinerlei Problem damit, den noch im Gang befindlichen Kampf gegen Diskriminierung als gefährliche »Wokeness« und »Gender-Gaga« abzuqualifizieren. Gleichzeitig sind er und seinesgleichen gerne bereit, die Erfolge, die andere in diesem Kampf errungen haben, einzugemeinden.

Dass die Debatte über Armbinden und Regenbogenflaggen in Katar der Tatsache Aufmerksamkeit verschafft, dass Diskriminierung vielerorts immer noch Alltag ist, ist gut und richtig. Das sollte aber nicht zu der völlig irrigen Annahme führen, hierzulande sei schon alles erreicht. Auch wenn diejenigen, die gesellschaftlichen Fortschritt in Wahrheit weiterhin ablehnen, gern so tun möchten.

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