Azteken-Instrumente Gruseltöne aus der Chaoskammer

Die Azteken liebten schaurige Töne. Sie bliesen auf Totenköpfen und klapperten mit Menschenknochen. Ein Musikarchäologe hat die Instrumente rekonstruiert, die Winde aus dem Jenseits heraufbeschwören und Krieger in Trance versetzen sollten. SPIEGEL ONLINE gibt eine Hörprobe.

In den Dezembernächten heult der Nordwind über das Hochland von Mexiko. Die Azteken nannten ihn Mictlampa Ehecatl, den Wind aus dem Totenland. Denn im Norden, so glaubten sie, liegt das Jenseits. Der Wind, der von dort herüberfegt, kommt der Legende zufolge aus der fünften Ebene der Unterwelt, Iztehecayan genannt, Ort des Obsidianwinds. Er ist gespickt mit messerscharfen Steinklingen, die dem Toten in das nackte Fleisch schneiden. Deshalb mussten die Verwandten Kleidung verbrennen, damit die Toten sie mitnehmen konnten in die Unterwelt - zum Schutz vor dem Obsidianwind.

"Dieser Nordwind im Hochland ist eisig und schneidend", sagt Arnd Adje Both, Musikarchäologe an den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim. Und das gilt auch für den Klang der kleinen Tonpfeife mit Totengesicht, die Both in der Hand hält. Dem Glauben der Azteken zufolge kann er durch das Instrument mit der Stimme des Totenwinds sprechen. Er pustet hinein, und den Raum füllt ein Geräusch, das die Seele frieren lässt. Es erinnert an einen Sturm, der um scharfe Klippen tost.

Dabei ist Boths Totenkopfpfeife nur ein Nachbau. Das Original fanden Archäologen Ende der achtziger Jahre in der Pyramide des Ehecatl-Quetzalcoatl im Tempelbezirk von Tlatelolco - in der Hand eines Menschenopfers. Der etwa 20-jährige Mann lag zusammengekrümmt begraben, seine knöchernen Hände umklammerten je eine der Pfeifen. Hat er in seinen letzten Momenten auf ihnen gespielt? Oder drückte man sie ihm erst nach seinem Tod in die Hände und bog die kalten Finger darum?

"Wir wissen nur, dass die Totenkopfpfeifen einen eindeutigen Bezug zur Unterwelt haben", sagt Both SPIEGEL ONLINE. Streng genommen sind es auch gar keine Totenköpfe, die auf den Pfeifen prangen. "Es ist ein Mischwesen aus Mictlantecuhtli, dem Herrn der Unterwelt, und dem Windgott Ehecatl." Die Missionare der frühen Kolonialzeit berichteten über diese unheimlichen Instrumente. Welch ein Teufelszeug! Die Azteken, so schrieben sie, glaubten, ihr Atem sei eine Form des Windes. Wenn sie in die Pfeifen bliesen, spreche Ehecatl persönlich.

Töne hinterlassen keine Spuren im Boden

Doch hier liegt das generelle Problem der Archäologie, wenn es um längst verklungene Musik geht: Töne hinterlassen keine Spuren im Boden. Und die schillernden Berichte der Missionare aus den frühen Tagen der Eroberung Amerikas sind oft keine zuverlässigen Quellen. Gerade wenn die Musik mit religiösen Vorstellungen oder Zeremonien im Zusammenhang stand, neigen die Beschreibungen der Pater zu emotionalen Verzerrungen der Wahrheit.

Also hat Both versucht, die Funktionsweise der Ehecatl-Pfeifen so rational wie möglich zu studieren. "Technisch betrachtet müssten sie eigentlich Luftwirbelpfeifen heißen", erklärt er. "Der Ton entsteht, weil in einer Kammer zwei Luftströme diametral aufeinandertreffen." Das macht die Totenkopfpfeifen zu Raritäten unter den Musikinstrumenten. Zwar gibt es weltweit eine handvoll Enthusiasten, meist Künstler oder Experimentalmusiker, die solche Pfeifen nachbauen können. Aber die letzten Geheimnisse der Funktionsweise sind bis heute nicht gelüftet.

Both hat sein Exemplar bereits im Computertomografen untersucht. Aber um zu verstehen, was in der sogenannten Chaoskammer - dem Ort der Tonentstehung - passiert, müsste schwereres Gerät her. "In der Automobilforschung gibt es virtuelle Windkanäle, mit denen zum Beispiel das Windgeräusch am Rückspiegel erforscht wird", sagt Both. "Darin würde ich meine Totenkopfpfeife gerne einmal testen."

Musik mit destruktivem Charakter

In der abendländischen Kultur ist Musik fast immer mit etwas Angenehmem verbunden. Die Azteken sahen das anders: "Musik kann auch sehr destruktiv sein. Das machten sie sich zunutze", sagt Both. "So zum Beispiel." Er greift nach einer Doppelpfeife mit zwei kleinen, kugelförmigen Resonanzkörpern. Ein schrilles Gellen ertönt, dann kommt ein tieferes Surren hinzu. Das extrem unangenehme Geräusch scheint immer knapp außerhalb des mit dem Verstand Fassbaren zu liegen.

"Die beiden Töne sind nicht unison, sie liegen nur eng nebeneinander", sagt Both. "Das kann unser Gehirn psychoakustisch nicht mehr verarbeiten." Also phantasiert es eigene Töne hinzu. Das Surren ist ein sogenannter Kombinationston. "Irgendwann fühlt es sich so an, als ob die Summtöne einen umkreisen", meint Both. Ist man den Klängen der Doppelpfeife länger ausgesetzt, reagiert das Gehirn angeblich mit dem Rückzug in einen tranceähnlichen Zustand.

Die frühen Missionare in Amerika haben über solche Szenen berichtet. Der spanische Franziskanermönch und Ethnologe Fray Bernardino de Sahagún berichtet in seiner "Historia general de las cosas de Nueva España", dass sich die Kasten der Adler- und der Jaguarkrieger zu einem gemeinsamen Ritual im Tempelbezirk versammelten. Bis zu 400 Krieger tanzten demnach im Kreis und bliesen in ihre Pfeifen. 400 dissonant gellende Schreie füllten den Tanzplatz. Nach einer Weile verloren die ersten die Kontrolle. Aufgeputscht von dem Missklang begannen sie, übereinander herzufallen. Nicht selten endete das Ritual mit Toten. "Die Klänge machen in der Tat aggressiv", erklärt Both. "Sie eigneten sich hervorragend, um vor Kampfhandlungen die Krieger in eine bis zum Zerreißen gespannte Grundstimmung zu versetzen."

Vergleich mit heutigen Kulturen

Allerdings könnten die Azteken auch versucht haben, mit Musik zu heilen. Davon haben zwar die Missionare selten erzählt, und bildliche Darstellungen von Heilzeremonien sind ebenfalls rar. "Man könnte aber einen vorsichtigen Vergleich zu heutigen Kulturen anstellen", spekuliert Both. Im Nordwesten Mexikos leben die Tarahomara-Indianer. Wird ein Mitglied des Stammes krank, gibt es die Möglichkeit, ihn mit einer Zeremonie zu heilen. Der Heiler setzt dazu ein geriffeltes Holz auf den Kopf des Kranken. Mit einem Stock schabt er darüber, so dass ein rasselndes Klappergeräusch entsteht. Der Schädel wird dabei zum Gefäß, das den Klang aufnimmt. Der Kranke hat zuvor Peyote konsumiert, einen Kaktus mit bewusstseinsverändernder Wirkung.

Auch die Azteken kannten Schabinstrumente. "Die sogenannte Knochenratsche war aus menschlichen Oberschenkelknochen gefertigt", sagt Both. Frühe Missionare berichteten, dass die Ratsche "Instrument zur Stärkung der Knochen" genannt und bei Totenzeremonien eingesetzt wurde. Ihr schauriger Klang sollte die Gebeine des Toten für das Jenseits stärken. Both: "In der Vorstellungswelt der Azteken war der Tote eigentlich gar nicht tot, sondern konnte sehr gut Unterstützung und Stärkung für den Gang in die Unterwelt gebrauchen."

Die Welt der Azteken scheint voller Musik gewesen zu sein. Sie entlockten so ziemlich allem Töne: Holz, Steinen, Ton, Knochen, Fellen, ja sogar Schneckenhäusern. Nur ein eigenes Wort für die Instrumentalmusik kannten sie nicht. "Ein Instrument spielen" hieß bei ihnen "singen durch ein Instrument".

Die Erforschung der Azteken-Klangwelt ist allerdings noch eine junge Disziplin. Als Spielzeug katalogisiert, verschwand so manche Flöte und Pfeife in den Magazinen der Museen. Niemand wusste etwas mit den oft rituell zerbrochenen Stücken anzufangen. Both konnte zwar bislang noch jedem Instrument, das er in den Händen hielt, einen Ton entlocken. "Nur weiß ich halt manchmal nicht, ob es auch der richtige war."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten