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Archäologie: Der lange Weg ins Jenseits

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Makabre Begräbnisriten Zerhackt, gemahlen, verkohlt

Wie unsere Vorfahren ihre Verstorbenen ehrten, lässt uns heute erschaudern. Mit großem Aufwand bearbeiteten und sortierten sie die Knochen, bevor die Toten ihre letzte Ruhe fanden.

In der Jungsteinzeit war der Weg ins Jenseits mitunter lang. Er führte nicht direkt nach dem Tod ins Grab, sondern umfasste mehrere Stationen. Dabei wurden die Knochen, je nach kulturellen Gepflogenheiten, oft wiederholt behandelt: vom Fleisch befreit, gewaschen, verbrannt oder neu geordnet.

Für uns heute schwer vorstellbar, waren diese Prozeduren damals allerdings ein religiös bedeutender, liebevoll verrichteter Dienst an den Ahnen.

Eines der jüngsten Beispiele stammt aus Lapa do Santo im Südwesten Brasiliens. Hier lebten vor rund 9500 Jahren Gruppen von umherziehenden Menschen, die sich hauptsächlich von Pflanzen und kleinen Tieren ernährten. Sie aßen Fische, Eidechsen, Nager, Gürteltiere und gelegentlich ein Nabelschwein oder einen Hirsch.

Sorgfältige Behandlung der Toten

Über Jahrhunderte kamen sie immer wieder zu einer großen Höhle zurück, deren gut sichtbarer Eingang unter einem 30 Meter hohen Kalksteinmassiv liegt. Hier verzehrten sie ihre Mahlzeiten, stellten neue Werkzeuge her - und bestatteten ihre Toten.

Diese Praxis war für die Jungsteinzeit nicht ungewöhnlich. In vielen Kulturen blieben die Toten auch nach ihrem Ableben in den Wohnbereichen im Kreis ihrer Familien und wurden nicht auf weit entfernte Friedhöfe verbannt.

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Archäologie: Der lange Weg ins Jenseits

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"Lapa de Santo kann deshalb auch nicht als reiner Friedhof klassifiziert werden", schreiben André Strauss und seine Kollegen in der Zeitschrift "Antiquity" .

Die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Universität São Paulo in Brasilien haben insgesamt 26 Skelette aus der Höhle untersucht und konnten feststellen, welchen Aufwand die Menschen mit ihren Verstorbenen betrieben.

Ein Schädel gefüllt mit 84 Zähnen

Besonders sorgfältig war die Behandlung der Toten aus der zweiten Bestattungsphase, vor 9600 bis 9400 Jahren. Nur in zwei Gräbern lagen noch relativ komplette Skelette. Einem davon wurden, als die Knochen noch recht frisch und die Muskeln noch nicht vergangen waren, die Unterschenkelknochen zerhackt.

Einem anderen trennte man den Kopf ab und legte ihm die amputierten Hände über das Gesicht. Doch es gab auch Gräber mit weitaus gemischteren Ensembles von bis zu vier Individuen. In drei Gräbern lagen Skelette ohne Kopf - ergänzt mit fremden Schädeln.

In einigen Fällen hatte man einen Kinderschädel einem Erwachsenenskelett zugeordnet, in anderen Fällen einen Erwachsenenschädel einem Kinderskelett. Aus zwei Kiefern hatte man sämtliche Zähne gezogen.

"Bratenspur" und rote Pigmente

Die Oberhälfte eines Schädels enthielt eine Füllung aus zerkleinerten und verbrannten Knochen, von einigen hatte man zuvor sorgfältig das Fleisch abgeschabt. Ein anderer Schädel war mit 84 Zähnen gefüllt.

Bei den verbrannten Knochen war oft nur eine Seite angekohlt. Der restliche Teil des Knochens war demnach, als er dem Feuer ausgesetzt war, noch mit Fleisch bedeckt - ein Phänomen, das Archäologen gemeinhin als "Bratenspur" bezeichnen. Viele der Knochen hatten zudem eine auffällig rötliche Färbung - sie waren reichlich mit rotem Pigment bestrichen worden.

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Die Knochen, das zeigt die neue Untersuchung, wurden nur temporär bestattet, als sie noch "frisch" waren. Danach folgten mehrere rituelle Behandlungen. "Wie viel Zeit zwischen diesen Phasen verging, können wir nicht genau sagen", erklärt Strauss. "Aber jüngere ethnografische Beispiele belegen, dass einige Monate bis zu mehreren Jahren verstrichen zu sein scheinen."

"Damit das Skelett in die Grube passt"

Von etwa 8600 Jahren wurde es dann ruhiger um die Toten von Lapa do Santo. Die Gräber der dritten Phase enthielten zwar auch meist mehrere Skelette, jedoch waren diese, mit Ausnahme höchstens einiger kleinerer Knöchelchen, vollständig - und ohne Schnitt- oder Schabspuren, ungefärbt, unverbrannt, dafür mit allen Zähnen. Höchstens einige der Langknochen hatte man gebrochen, "damit das Skelett in die Grube passte", vermuten die Forscher.

Doch das war nicht der einzige Unterschied: "In der zweiten Phase wurden die Leichen bereits kurz nach dem Tod in die Höhle gebracht", erklärt Strauss. In der dritten Phase sei der Tod hingegen weiter entfernt eingetreten und man habe die trockenen Knochen erst nach Lapa do Santo transportiert, als kaum noch Fleisch vorhanden gewesen sei.

Doch obwohl die Rituale sich geändert hatten, diente die Höhle weiterhin als Begräbnisplatz. Das spricht dafür, dass sich zwar die Jenseitsvorstellungen änderten - nicht jedoch die Bevölkerung selbst.

Knochen Hunderter Menschen

Die Rituale von Lapa do Santo sind für die Jungsteinzeit gar nicht so ungewöhnlich. Auch in anderen Teilen der Welt wurden Knochen bearbeitet und sortiert. Im türkischen Çayönü beispielsweise sortierten die Menschen zwischen 8800 und 7000 vor Christus die Knochen ihrer Toten in Regale.

Schädel und Langknochen von etwa 71 Individuen entdeckten die Ausgräber auf drei Kalksteinbänken im so genannten "Schädelgebäude", weitere 49 Schädel lagen entlang der Wände, möglicherweise von einem Regal oder einer Aufhängung heruntergerutscht. Insgesamt aber zählten die Anthropologen mindestens 400 Menschen, deren Knochen über den Boden des Hauses verteilt lagen.

Eines der merkwürdigsten jungsteinzeitlichen Massengräber fanden Archäologen in Deutschland, im südpfälzischen Herxheim. In zwei ringförmigen Gräben, die vier Häuser umschließen, lagen mindestens 1350 Tote.

Komplexe Vorstellungswelt der Ahnen

Keramikscherben und Steinwerkzeuge, die zwischen ihren Knochen steckten, verrieten, wo sie tatsächlich herkamen. Aus ganz Europa: aus Böhmen, aus dem Saarland und von der Schwäbischen Alb.

Sie kamen jedoch nicht nach Herxheim, um dort zu sterben. Sie kamen bereits als Tote. Als sie in die Gräben gelegt wurden, waren die Körper schon lange nicht mehr frisch.

Vor 7000 Jahren schallte offenbar von der Südpfalz aus ein Ruf quer durch Europa: "Bringt eure Toten her!" Daraufhin gruben im späteren Frankreich, an der Elbe und auf der Alb die Menschen ihre Vorfahren aus; die Verwesten, Halbverwesten und die noch Warmen. Ein gewaltiger Leichen-Sternmarsch quer durch Europa setzte sich in Gang und endete in Herxheim.

Welcher Glauben hinter diesen Praktiken stand, werden wir vermutlich nie ganz verstehen. Aber sie zeigen, dass die Vorstellungswelt unserer Vorfahren sehr viel komplizierter war, als wir gemeinhin vermuten.

Das gilt auch für Südamerika: Lange hielten Forscher die Menschen aus der Region um Lapa do Santo für eine homogene Gruppe mit sehr einfachen Lebensumständen. Doch das Leben war alles andere als geradlinig und simpel.

"Die neuen Untersuchungen zeigen, wie komplex allein die Bestattungsriten waren", sagt Strauss. "Sie belegen, dass es in Südamerika bereits vor 10.000 Jahren eine große kulturelle Vielfalt gab. Und sie helfen, ein wesentlich pluraleres Bild der Vorgeschichte zu zeichnen, in der verschiedene sehr dynamische Gruppen zu allen Zeiten Wandlungen unterworfen waren."

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