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Körperkult: Gespaltene Zunge, Glas im Ohr

Foto: Sasha Haagensen/ Getty Images

Body Modification Lust am Horror-Körper

Piercing war gestern, heute sind Implantate und gespaltene Zungen angesagt. Wer auffallen will, muss extrem sein. Das gelingt mit Hörnern auf dem Kopf, Elfen-Ohren oder Brandzeichen. Doch was für den einen Schönheit oder sexuellen Kick bedeutet, kann für andere zur Sucht werden.

Wenn Erik Sprague seinen Mund öffnet, blitzen spitze, geschliffene Zähne hervor. Er wickelt die Teile seiner gespaltenen Zunge umeinander, mit denen er auch einen Ventilator anhalten kann, und hängt sich an zwei Bänder in die großen Löcher seiner Ohren einen Betonklotz. Über seinen grünen Körper verteilen sich in Reih und Glied tätowierte Schuppen, statt Augenbrauen spannen je fünf kleine Implantate seine Haut zu Hügeln auf.

Sprague ist der Lizardman - eine menschliche Echse, ein lebendes Kunstwerk. So extrem wie der 37-Jährige verändern nicht viele Menschen ihr Äußeres. Stalking Cat vielleicht, der Reißzähne fletschen und mit Barthaaren schnurren kann und Raubtierstreifen auf der Haut trägt . Oder der Schweizer Journalist Etienne Dumont, dessen Unterkiefer man durch ein Loch in seiner Haut am Kinn betrachten kann und auf dessen buntem Kopf zwei Hörner thronen.

Lizardman , Stalking Cat, Dumont - diese Männer sind "body modifiers", zu Deutsch Körperveränderer. Ihr Weg ist extrem, doch sie zählen zu einer wachsenden Gruppe von Menschen, die ihren Körper nicht als naturgegeben hinnehmen, sondern ihn verschönern, verbessern, besonders machen wollen.

Die Schönheit: Elfen-Ohren und UV-Tattoos

In Deutschland trugen um die Jahrtausendwende herum fast 40 Prozent aller Mädchen zwischen 14 und 24 Jahren mindestens ein Piercing, jeder fünfte Deutsche hat seinen Körper mit einem Tattoo verziert. Doch ein Ring im Bauchnabel oder eine Rose auf der Schulter reichen vielen nicht mehr aus. Zu weit verbreitet ist diese Art des Körperschmucks mittlerweile, zu gewöhnlich. "Der Zenit von Piercings war im Jahr 2000 erreicht, jetzt schwindet die Lust darauf", sagt Erich Kasten, Professor am Institut für Medizinische Psychologie an der Universitätsklinik Schleswig-Holstein.

Stattdessen greifen Veränderungswillige zu immer extremeren Mitteln: Eine gespaltene Zunge kann vielleicht noch schockieren. Auch Implantate unter der Haut ziehen die Blicke der Umgebung auf sich, ebenso wie operativ zugespitzte Elfen-Ohren  oder nur in der Disco sichtbare UV-Tattoos. Schier unerschöpflich scheinen zudem die Modifizierungsmöglichkeiten, die einen besseren sexuellen Kick verschaffen sollen. Denn nicht nur die Zunge, auch die Eichel des Penis spalten sich einige Männer - "mit einem Elektrocutter", sagt Kasten. Und Frauen lassen aus Schönheitsgründen nicht nur ihre Brüste vergrößern, sondern auch ihre inneren Schamlippen verkleinern oder ihren G-Punkt mit Kollagen aufspritzen.

Das Angebot von Human Upgrades scheint da nur die logische Konsequenz der immer absurder anmutenden Schönheitskorrekturen. Die angeblich 2002 gegründete Klinik für Schönheitschirurgie mit "Recovery-Center" auf den Malediven  offeriert etwa eine "Simple Nose" - eine Nase mit nur einem Loch und ohne Scheidewand. Ebenso soll ein sechster Finger den Körper "upgraden", und auch Schwimmhäute seien implantierbar.

Eine ganze Reihe Fotos von plastischen Chirurgen und Adressen aus ganz Europa zieren die Seite und verleihen ihr ein seriöses Aussehen. Doch wer nach den angeblichen Experten im Internet sucht, wird sie nicht finden, wer versucht, das Zentrum zu kontaktieren, wird scheitern. Human Upgrades könnte nur ein PR-Gag, ein aufwendig betriebener Schabernack. Aber es ist die Bachelor-Arbeit eines Grafikdesign-Studenten.

Der Kick: Sich attraktiver fühlen nach dem Schmerz

"Worüber wir heute lächeln, kann morgen schon Alltag sein", sagt Erich Kasten, der ein Buch mit dem Titel "Body-Modification" geschrieben hat, auf SPIEGEL ONLINE. "Ich halte mittlerweile alles für möglich." Als sich die Punks in den siebziger Jahren Sicherheitsnadeln durch die Haut steckten, habe schließlich auch niemand erwartet, dass schon 30 Jahre später Implantate, Brandzeichen oder selbst erzeugte Narben das neue Schönheitsideal wachsender Gruppen prägen würden. "Der Kampf ums tägliche Brot ist dem Kampf gegen die Langeweile gewichen. Und schließlich wird selbst der eigene Körper zum Fun-Faktor, den man formen kann", schreibt Kasten in seinem Buch.

Auch Etienne Dumont, der am ganzen Körper tätowierte Schweizer Journalist stylt seinen Körper nicht aus einem bestimmten Grund um. "Dahinter steckt keine bestimmte Motivation", sagt Dumont SPIEGEL ONLINE. "Ich sehe etwas, denke darüber nach, und wenn es mir gefällt, mache ich es. Es ist genauso einfach, wie beim Bäcker etwas auszuwählen. Nur etwas teurer vielleicht."

Andere reizen der Adrenalinkick, die Angst, der Schmerz. "Wer das hinter sich gebracht hat, fühlt sich attraktiver, stärker, größer", erklärt Kasten. Auch in Internet-Communitys amüsieren sich Tätowierte nicht selten über Ängstliche, die sich für die Prozedur eine lokale Betäubung wünschen. "Das ist ja echt für Weicheier. Mit Betäubung. Das ist doch der zusätzliche Kick, das Stechen an sich", schreibt etwa User Lorian in einem Forum .

Neben Schmerz spielen auch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und Schönheitsideale wichtige Rollen. Bei dem Volk der Mursi in Äthiopien etwa gelten Tellerlippen als schön, bei den Padaung an der thailändisch-burmesischen Grenze Giraffenhälse. Im alten China brach man Mädchen die Fußknochen und band sie fest ein, damit sie kleine "Lotusfüße" bekamen, und noch vor wenigen Jahrhunderten deformierten viele Völker Säuglingen absichtlich den Schädel.

Die Sucht: "Nichts im Leben ist fertig"

Beim Lizardman war es vor allem der Wunsch, sich von seinen Mitmenschen zu unterscheiden. Seine Verwandlung begann, als er 22 Jahre alt war. Vier Jahre lang hatte der Philosophiestudent über seine Transformation nachgedacht - 1994 war es so weit: In einem Tattoo-Studio ließ sich Erik Sprague grüne Schuppen in die Haut ritzen. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer menschlichen Echse war getan.

Heute, mehr als 700 Tattoo-Stunden später und um 250.000 Dollar leichter, hat der Lizardman sein Ziel noch immer nicht erreicht: "Ich bin noch nicht fertig", schreibt er auf seiner Internetseite. Auch Stalking Cat und der Journalist Etienne Dumont perfektionieren ihren Körper immer weiter. "Nichts im Leben ist fertig", meint Dumont. "Ich finde es aufregend, mich zu verändern, vielleicht fühle ich mich so lebendiger. Im Moment werden zum Beispiel die Ringe durch meine Nase breiter."

"Ein Tattoo kann sehr schön sein, aber manch einer kann einfach nicht aufhören", sagt Psychologe Kasten. Tattoos, Piercings und Brandings werden dann zu einer Sucht.

Das berühmteste Beispiel ist vermutlich Michael Jackson: Mit zahlreichen Operationen und Behandlungen hat er sich vom dunkelhäutigen Jungen mit breiter Nase und krausen Haaren zu einem schmallippigen, spitznasigen Weißen mit geradezu weiblicher Attraktivität verändert. Glücklicher hat es ihn vermutlich nicht gemacht.

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