
Gefühlte Wahrheiten beim BKA Wer Angst hat, hat recht

Präsident des Bundeskriminalamtes Holger Münch
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"Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich."
Dorothy und William Thomas, "The Child in America: Behavior Problems and Programs" (1928)
Man könnte meinen, dass Holger Münch Soziologie oder Kulturwissenschaften studiert hat. In Wahrheit ist Deutschlands oberster Polizist aber Diplomverwaltungsfachwirt. Das verwundert deshalb, weil Münchs Weltbild sich eher aus gewissen Strömungen der Kultur- und Sozialwissenschaften zu speisen scheint als aus dem deutschen Verwaltungswesen. Es ist ein verblüffendes, sehr beunruhigendes Weltbild für den Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA).
Bei der Herbsttagung des BKA in Wiesbaden sagte Münch am Mittwoch diesen bemerkenswerten Satz: "Auch Gefühle sind Fakten."
Selbstverständlich sind Gefühle für denjenigen, der sie fühlt, real, echt, unstrittig vorhanden. Aber macht sie das zu "Fakten"?
"Total verdächtig, hauen wir lieber ab"
Problematisch wird der seltsame Satz vor allem durch den Kontext. Vor "auch Gefühle sind Fakten" sagte Münch : "Auch die Angst der Menschen vor Kriminalität muss ernst genommen werden."
Auch das ist für sich genommen nicht falsch: Wenn ein Polizist einem Bürger, der ihn auf eine seiner Meinung nach verdächtige Person aufmerksam macht, "haben Sie sich mal nicht so!" antworten würde, spräche das für eine seltsame Berufsauffassung.
Ernst nehmen heißt aber nicht, in dieser Situation mit "oh, stimmt, total verdächtig, hauen wir lieber ab" zu antworten. Es heißt, dem Hinweis nachzugehen. Oder, wenn offenkundig ist, dass die Angst unbegründet ist, auf diesen Umstand hinzuweisen. Das wäre Münchs Job.
Was heißt "es reicht nicht"?
Es reiche nicht, dass die Zahl der gemeldeten Straftaten abnimmt und die Aufklärungsquote hoch ist, hat Münch gesagt. Aber was reicht dann?
"Es reicht nicht" heißt, kombiniert mit "Gefühle sind Fakten": Wenn die Leute aufgrund anderer Faktoren den gänzlich falschen Eindruck haben, dass das Leben hierzulande immer gefährlicher wird, dann ist das auch so. Oder, noch kürzer: Wer Angst hat, hat automatisch recht. Egal, wie die Realität aussieht.
Es ist nicht der Job der Polizei, Fiktionen zu validieren
Für einen Angsttherapeuten mag das ein Ansatzpunkt für eine Intervention sein. Für den Chef der obersten deutschen Polizeibehörde ist die Vorstellung, dass Sicherheit nicht messbar, sondern sozial konstruiert ist, ein miserabler Ratgeber.
Münchs Aufgabe besteht darin, reale Kriminalität zu bekämpfen und nicht gefühlte Bedrohungen. Wer gefühlte Bedrohungen bekämpft, betreibt Sicherheitstheater, schränkt dazu im Zweifel Bürgerrechte ein und verschwendet Steuergelder.
Natürlich möchte der BKA-Präsident das, was alle BKA-Präsidenten immer wollen: mehr Geld und Befugnisse für seine Behörde. Zur Not eben, weil man neben den realen Gefahren jetzt auch noch die gefühlten bekämpfen muss. Am besten fördert man die Angst vielleicht sogar noch ein bisschen, im Dienst des eigenen Etats. Mit Behauptungen wie der, dass "Ziele in Deutschland von jedem und von überall auf der Welt angegriffen" werden könnten - dem Internet sei Dank. Auch das hat Münch am Mittwoch gesagt.
Wenn der BKA-Chef meint, dass Deutschlands Bürger sich über Gebühr fürchten, dann sollte er an seiner Kommunikation und an der der Polizeibehörden arbeiten. Meinetwegen soll er sich jede zweite Woche in eine Talkshow setzen und dort wieder und wieder erklären, dass das Leben in Deutschland nicht gefährlicher, sondern immer ungefährlicher wird. Es ist nicht Aufgabe des BKA, Fiktionen zu validieren.
Reale Kugeln machen echte Löcher
Tatsächlich stimmt die These, dass substanzielle Teile unserer erlebten Realität in Wahrheit "sozial konstruiert" sind: Geld hat nur einen Wert, weil wir alle uns darauf geeinigt haben, dass es einen hat. Es gibt aber durchaus eine beobachtbare Realität jenseits sozialer Konstruktion.
Die Autorität eines Polizisten zum Beispiel ist zunächst einmal sozial konstruiert: Gewaltmonopol, Behörde, Staat, alles Vereinbarungen zwischen uns allen. Wenn jemand jedoch einen Polizisten angreift, zeigt sich sehr schnell, dass Schlagstock, Handschellen oder gar Projektile gar nicht sozial konstruiert sind. Reale Kugeln machen echte Löcher.
Das nicht vorhandene NSU-Gefühl
So ähnlich ist das auch mit Kriminalität: Entweder man wird ausgeraubt oder nicht. Man sollte lieber nicht anzeigen, dass man das Gefühl hat, ausgeraubt worden zu sein, obwohl man weder bedroht noch bestohlen wurde. Das Vortäuschen einer Straftat ist nämlich eine Straftat.
Tatsächlich sind gefühlte Wahrheiten einer der Gründe für das katastrophale Versagen deutscher Sicherheitsbehörden in diversen Fällen. Münchs Vorgänger als BKA-Chef, Jörg Zierke, hat 2014 zum Beispiel Folgendes über den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund gesagt: "Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass eine Gruppe aus einer so inhumanen und absonderlichen Motivation heraus Menschen erschießen könnte." Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten einfach das Gefühl, dass es in Deutschland keinen Nazi-Terror geben kann. Mit den bekannten, schrecklichen Folgen.
Schöne Grüße an Hans-Georg Maaßen
Im Augenblick kann man wieder den Eindruck gewinnen, dass deutsche Sicherheitsbehörden sich dem Gefühl hingeben, das mit den Nazis in Deutschland sei nicht so schlimm. Und dann marschieren auf einmal organisierte Gruppen durch deutsche Städte, nennen sich stolz "Adolf-Hitler-Hooligans" oder verschaffen sich Kriegswaffen. Wo kommen die denn plötzlich her? Obwohl man doch die ganze Zeit das Gefühl hatte, die Sache im Griff zu haben! Schöne Grüße auch an Hans-Georg Maaßen, einen weiteren Meister der gefühlten Wahrheit.
Uns allen ist zu wünschen, dass der Präsident des Bundeskriminalamts zumindest bei der Ausübung seines Amts zu einer klaren Unterscheidung zwischen Gefühlen und Fakten zurückfindet. Wenn nicht, ist er der falsche Mann für den Job.