Computermodell Superspreader machen Krankheit zur Epidemie

Nicht alle Menschen übertragen Krankheiten gleich schnell. Je größer die individuellen Unterschiede sind, umso entscheidender ist die Rolle sogenannter Superspreader, die besonders viele andere anstecken. Sie sind der Schlüssel, um Epidemien zu verhindern, glauben Wissenschaftler.

Netzwerk-Forscher interessieren sich besonders für jene Knoten, die überdurchschnittlich viele Verbindungen zu anderen Punkten haben. An diesen Hubs, auch Superspreader genannt, entscheidet sich, ob beispielsweise Informationen schnell verbreitet werden oder nicht. Marketingexperten versuchen beispielsweise, gezielt nur diese intellektuellen Leithammel anzusprechen, um ihre Botschaften effizient zu verbreiten.

Auch Epidemiologen nutzen derartige Modelle, um die Ausbreitung von Infektionen zu simulieren. Der israelische Physiker Reuven Cohen von der Bar-Ilan-University bei Tel Aviv hat beispielsweise eine spezielle Impfstrategie entwickelt, die Epidemien mit relativ geringeren Impfquoten verhindern soll. Die Idee ist, hauptsächlich die Superspreader zu immunisieren.

Ein internationales Forscherteam hat die Theorie der Superspreader nun mathematisch genauer untersucht und ein einfaches Modell mit dem Verlauf verschiedener Infektionskrankheiten verglichen. Das Ergebnis: Es gibt sie tatsächlich, die besonders gefährlichen Superspreader. Bestimmte beobachtete Ausbreitungsmuster, etwa bei der Lungenkrankheit Sars, lassen sich sogar nur mit dem Vorhandensein weniger solcher Menschen erklären, schreiben James Lloyd-Smith von der University of California und seine Kollegen im Magazin "Nature" (Bd. 438, S. 355 - 359).

Die Epidemiologen entwickelten ein einfaches Modell zur Ausbreitung von Infektionen, in dem die sogenannte Reproduktionsrate, die besagt, wie viele Menschen ein Erkrankter ansteckt, individuell verschieden ist. Dieses Modell verglichen sie mit Statistiken von acht verschiedenen Infektionskrankheiten, darunter waren die Pocken, die Masern und die Lungenpest.

Dabei stellten sie fest, dass die individuelle Reproduktionsrate von Krankheit zu Krankheit verschieden stark variiert. Die größten individuellen Unterschiede traten bei Sars und den Masern auf. Hier muss es laut Modell viele relativ ungefährliche Infizierte und wenige Menschen mit hohem Ansteckungspotential geben. Bei Pocken gab es nur eine mittelgroße Variation der Reproduktionsrate. Am geringsten war die Variation bei der Lungenpest.

"Muster erinnert an die Sars"

Krankheiten mit hoher individueller Variation zeigen im Modell seltene, aber besonders explosive Epidemien, wenn anfangs nur ein Mensch infiziert war, schreiben die Forscher. "Dieses Muster erinnert an die Sars-Ausbrüche von 2003, wo an vielen Orten keine Epidemie auftrat, obwohl Infektionen aufgetreten waren, während in wenigen Städten explosive Ausbrüche der Krankheit beobachtet wurden."

Man müsse nur die Superspreader identifizieren, schreiben die Forscher, um Epidemien zu verhindern. Wenn man die Hälfte aller Gegenmaßnahmen auf jenes Fünftel der Menschen mit besonders hoher Infektionsgefahr konzentriere, wäre dies bis zu dreimal so wirksam wie eine zufällige Auswahl der Personen, bei denen Gegenmaßnahmen ergriffen würden.

Auf die große Frage, woran man die besonders gefährliche Virenschleuder denn nun erkennt, haben die vier Wissenschaftler freilich keine Antwort. Man müsse die Faktoren genauer untersuchen, die bestimmten, wie infektiös eine Einzelperson ist, erklären sie.

"Das ist genau das Hauptproblem", meint Kurt Ulm, Professor für Epidemiologie an der TU München. "Wie finde ich die Superspreader - und vor allem mit welchem Aufwand?" Dass die Menschen unterschiedlich infektiös seien, sei keine neue Erkenntnis, sagte Ulm im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

Schöne Theorie, schwierige Praxis

"Solche Modellierungen sind ein wunderschönes Spielzeug", meinte Ulm. "Praktisch lässt sich das aber nur schwer umsetzen."

Die Epidemiologen Alison Galvani (Yale University) und Robert May (Oxford University) halten das Kontrollieren von Infektionen ebenfalls für "ambitioniert", wie sie in einem "Nature"-Kommentar schreiben, aber nicht für unmöglich.

Zumindest bei sexuell übertragbaren Krankheiten sei ein Weg denkbar, um Menschen mit besonders vielen Sexualkontakten schnell zu identifizieren. Man müsse zunächst Menschen zufällig auswählen und diese dann nach ihren Partnern befragen. Besonders häufig genannte Personen gelten dann als Superspreader.

Genauso will auch der israelische Physiker Cohen vorgehen. Er schlug vor, 20 Prozent der Bevölkerung auszulosen und diese Personen zu bitten, einen Bekannten zu nennen, der geimpft werden sollte. Diese angegebenen Personen sollten dann tatsächlich geimpft werden. Wegen ihres großen Bekanntenkreises dürften die gesuchten Superschleudern mit großer Sicherheit unter den Immunisierten sein. Statt aller Menschen müssten so höchstens 20 Prozent geimpft werden.

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