Gesellschaft in der Coronakrise "Es tun sich Bruchlinien auf"

Befürworter und Gegner der Corona-Maßnahmen stehen sich immer deutlicher gegenüber. Jetzt haben Forscher untersucht, wie sich die Lager aufteilen - und wer in der Mehrheit ist.
Zerbrochenes Hinweisschild in Nürnberg: "Das ist nicht nur eine akademische Diskussion"

Zerbrochenes Hinweisschild in Nürnberg: "Das ist nicht nur eine akademische Diskussion"

Foto: Daniel Karmann/ DPA

In diesen Tagen könnte der Eindruck entstehen, ganz Deutschland dränge auf ein schnelles Ende des Corona-Ausnahmezustands. Immer öfter gehen die Gegner von Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen auf die Straße, Wirtschaftsverbände warnen vor massiven Wohlstandsverlusten, Politiker kritisieren eine Einschränkung von Grundrechten und die Bundesländer überbieten sich mit Lockerungen der bislang strengen Maßnahmen.

Aber spiegelt die Forderung nach einem schnellstmöglichen Ende der weitreichenden Schutzvorkehrungen auch die Mehrheitsmeinung der Menschen in Deutschland wider? Nein, legt eine repräsentative Studie der Technischen Universität Ilmenau und der Universität Bern nahe. Die Forscher um die Kommunikationswissenschaftler Jens Wolling und Dorothee Arlt befragten in der zweiten Aprilhälfte mehr als 1500 Personen dazu, wie sie die Coronakrise wahrnehmen, wie sie sich politisch positionieren und in welchen Medien sie sich informieren. Die unveröffentlichten Ergebnisse liegen dem SPIEGEL vor.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Umfrage: Fast die Hälfte der Teilnehmer (48 Prozent) nimmt in der Coronakrise zwar eine starke Einschränkung der Grundrechte wahr. Und 35 Prozent der Befragten ärgern sich darüber, dass ihr Leben nicht wie gewohnt ablaufen kann. Aber: Eine große Mehrheit (64 Prozent) lehnt einen vorschnellen Ausstieg aus dem politisch verhängten Ausnahmezustand ab. 72 Prozent halten Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen für angemessen, um die Gesundheit der Menschen zu schützen.

SPIEGEL: Herr Wolling, Ihren Ergebnissen ist zu entnehmen, dass viele Menschen eine Fortsetzung der Corona-Maßnahmen befürworten, obwohl sie zugleich der Meinung sind, dass diese Maßnahmen mit einer starken Einschränkung der Grundrechte einhergehen.

Wolling: Ja, das stimmt. Wenn man so will, ist das ein Paradox. Fast die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage zu, dass die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona die Grundrechte in Deutschland stark einschränken. Das ist also nicht nur eine akademische Diskussion, sondern es ist etwas, das in der breiten Bevölkerung wahrgenommen wird. Gleichzeitig ziehen die meisten Menschen daraus aber nicht die Konsequenz, dass die Corona-Maßnahmen schnell beendet werden müssen, sondern befürworten einen vorsichtigen Ausstieg. Unsere Daten zeigen, dass dies die Mehrheitsmeinung ist.

SPIEGEL: Liefern Ihre Umfrageergebnisse eine Erklärung dafür, wie es zu dieser Mehrheitsmeinung kommt?

Wolling: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Frage, ob man sich gesundheitlich bedroht fühlt, und der Frage, ob man einen schnellen Ausstieg befürwortet. Es plädieren vor allem diejenigen für ein Ende der Maßnahmen, die das Coronavirus für sich als recht ungefährlich erachten. Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht die Gefahr jedoch und favorisiert deshalb allmähliche Lockerungen.

Mitunter heftig kritisiert worden ist in den vergangenen Wochen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). So sagte der Theaterregisseur und langjährige Intendant der Berliner Volksbühne, Frank Castorf, in einem SPIEGEL-Interview , er wolle sich von Merkel nicht "mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss". Glaubt man der Umfrage von Wolling und seinen Kollegen, gehört Castorf jedoch zu einer Minderheit. Mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung zeigen sich die meisten Menschen (76 Prozent) zufrieden. 73 Prozent sind außerdem der Meinung, dass die Regierung ihre Sorgen ernst nimmt. Nur ein Wert fällt aus der Reihe: 85 Prozent der Befragten geben an, dass sie davon ausgehen, in der Coronakrise keinen Einfluss auf das Handeln der Regierung zu haben.

SPIEGEL: Herr Wolling, überrascht Sie der hohe Wert von 85 Prozent?

Wolling: Das ist ein dramatischer Befund. So etwas habe ich noch nie gesehen. Auch in der Flüchtlingskrise war das Gefühl der Menschen, keinen Einfluss auf die Regierung zu haben, stark, aber nicht ansatzweise so ausgeprägt wie jetzt. Außerdem steckt in den aktuellen Ergebnissen ein Widerspruch: Auf der einen Seite sagen die Befragten, die Regierung macht das, was die Bevölkerung will. Aber wenn man fragt, ob sie die Regierung beeinflussen können, dann sagen die Befragten nein.

Deutlich beobachten lässt sich, dass Kritik wie jene von Castorf zunimmt. Nicht alle greifen zu vergleichbar dramatischen Worten, aber im Alltag mehren sich die Anzeichen, dass sich die Gesellschaft in Unterstützer und Gegner eines strengen Gesundheitsschutzes aufteilt (lesen Sie hierzu einen Artikel  aus der aktuellen SPIEGEL-Ausgabe). Schien am Anfang der Krise ein starker politischer und gesellschaftlicher Konsens darüber zu bestehen, dass weitreichende Maßnahmen notwendig sind, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, formiert sich nun eine gesellschaftliche Opposition.

"Das sind nicht nur Verschwörungstheoretiker oder Rechtsradikale, sondern öfter auch Menschen, die unter der Krise finanziell stärker leiden."

SPIEGEL: Herr Wolling, haben Sie eine Erklärung für die sich abzeichnende Spaltung in der Gesellschaft?

Wolling: Wir sehen hier etwas, das wir auch schon bei anderen Themen in der Vergangenheit haben beobachten können: Wie in der Flüchtlings- oder der Klimafrage tun sich Bruchlinien zwischen Gruppen auf, die sich in ihren politischen Einstellungen, ihrer ökonomischen Situation und auch in ihrer Mediennutzung unterscheiden. Diese Bruchlinien werden von einigen bewusst aufgegriffen, um sie politisch zu instrumentalisieren.

SPIEGEL: Wie genau unterscheiden sich denn die sozialen Gruppen?

Wolling: Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass gerade diejenigen, die öffentlich-rechtliches Fernsehen nutzen, die staatliche Flüchtlingspolitik, eine entschiedene Klimapolitik und jetzt die Regierungslinie im Hinblick auf vorsichtige Lockerungen stärker unterstützen. Auf der anderen Seite organisieren sich Gruppen in sozialen Medien, die kräftig dagegenhalten. Hierzu zählen vor allem Menschen, denen es wirtschaftlich nicht so gut geht und die sich politisch eher rechts von der Mitte verorten. Natürlich sind das nicht nur Verschwörungstheoretiker oder Rechtsradikale, sondern öfter auch Menschen, die unter der Krise finanziell stärker leiden.

"Heute geht man ins Internet und hat schnell den Eindruck: Oh, da sind ja viele, die das ähnlich sehen."

SPIEGEL: Sie sagen, dass sich der Protest vor allem in den sozialen Medien organisiert. Welche Rolle spielen Facebook & Co. genau?

Wolling: Soziale Medien sind für viele Menschen ein Resonanzraum. Sie fühlen sich dort schnell bestätigt und finden Gleichgesinnte. Rechte Regierungskritiker und Verschwörungstheoretiker sind dort viel besser vernetzt, als sie es früher je sein konnten. Heute geht man ins Internet und hat schnell den Eindruck: Oh, da sind ja viele, die das ähnlich sehen. Dadurch erhalten diese Gruppen Zulauf.

SPIEGEL: Gibt es denn Menschen, die sich nur noch in sozialen Medien über das Zeitgeschehen informieren?

Wolling: Es sind relativ wenige, die sich ausschließlich auf diesem Weg informieren. In unserer Studie zur Flüchtlingskrise konnten wir zum Beispiel nachweisen, dass selbst diejenigen, die laut "Lügenpresse" skandierten, zusätzlich etablierte Medien nutzten.

Viele Politiker sprechen davon, dass Deutschland zu einer "neuen Normalität" finden müsse. Aber wie kann das gelingen, wenn die Zeichen eher auf Konflikt denn auf gesellschaftlichen Frieden stehen? Es wird deutlich, dass die Gesundheitskrise soziale und wirtschaftliche Herausforderungen mit sich bringt, deren Tragweite kaum abzuschätzen ist.

SPIEGEL: Herr Wolling, denken Sie, dass sich die sozialen Konfliktlinien in Zukunft werden überwinden lassen? Gibt es noch Hoffnung auf gesellschaftlichen Konsens?

Wolling: Das ist eine schwierige Frage und unsere jetzigen Daten geben darauf keine Antwort. Wir wollen die Menschen in einiger Zeit noch mal befragen und dann soll es auch darum gehen, wie sich die Gesellschaft nach der Coronakrise verändern soll und welche neuen Themen auf die Tagesordnung kommen könnten. Wir wollen also mehr erfahren über die gewünschten Perspektiven - ob zum Beispiel die Produktion stärker auf Klimaverträglichkeit ausgerichtet werden sollte, ob wir mehr Digitalisierung brauchen oder ob statt globaler Lieferketten wieder stärker nationale Autonomie in der Produktion erforderlich ist. Es wird spannend, welche Koalitionen sich diesbezüglich in Zukunft bilden.

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