Christian Stöcker

Umgang mit Ungeimpften Die vierte Welle ist politisch

Christian Stöcker
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Die vierte Coronawelle trifft Deutschland mit Wucht. Maßgeblich mitschuldig sind die Ungeimpften. Es gibt von ihnen zwei Sorten: Die einen haben ein ungutes Bauchgefühl – die gefährlicheren ungute Ideen.
»Querdenker«-Demonstration: Jedes Vertrauen in diesen Staat verloren

»Querdenker«-Demonstration: Jedes Vertrauen in diesen Staat verloren

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STRINGER / AFP

Die jüngste Coronakatastrophe wird sich hierzulande primär auf den Intensivstationen von Kliniken abspielen, aber diesmal wird vermutlich niemand mehr auf dem Balkon applaudieren. Das Intensivpersonal fühlt sich im Stich gelassen, völlig zu Recht.

Wir verdanken diese Eskalation zweifellos stümperhaftem Regierungshandeln, wie in der aktuellen SPIEGEL-Titelgeschichte nachzulesen ist . Die Boosterimpfungen werden nicht schnell genug verabreicht, weshalb auch ältere Geimpfte jetzt wieder in Intensivbetten landen. Einen noch größeren Anteil haben aber diejenigen, die dem Rest der Gesellschaft die Solidarität verweigern: die Ungeimpften. Die Inzidenz steigt, wo die Impfquote niedrig ist, und exponentiell wächst sie vor allem bei den Ungeimpften, etwa in Bayern .

Es gibt davon zwei, teilweise überlappende Sorten: Ungeimpfte mit unguten Gefühlen und solche mit unguten Ideen.

»Das ist ein Trick«

Erstere sind eventuell noch mit Argumenten zu erreichen. Sie haben vielleicht doch irgendwo tief drin das Gefühl, dass es klüger, sozialer und solidarischer wäre, sich impfen zu lassen. Aber da sind nun einmal diese »Bauchgefühle«.

Nahrung gibt diesen Bauchgefühlen mittlerweile eine eigene Klasse von so eifrigen wie kompetenzfreien Helfern, etwa der Fußballspieler Joshua Kimmich. Diese Menschen sind ganz plötzlich zu Fachleuten für Impfstofftechnologie avanciert und warten »lieber auf einen Totimpfstoff«. Zu ihnen zählt auch der aus dem Fernsehen bekannte Bestsellerautor Richard David Precht, der kürzlich in einem bemerkenswerten Podcast mit Markus Lanz über die zahlreichen Forscherinnen und Forscher sagte, die Langzeitwirkungen von mRNA-Impfstoffen aus vielerlei Gründen für ausgeschlossen halten: »Die definieren den Begriff Langzeitwirkung anders. Aber das ist ein Trick.«

Die Propheten des unguten Gefühls

Später folgte der »Verdacht«, die Regierung wolle mit Impfungen für Jugendliche »nur ihre Statistik aufbessern«. Genau so reden auch Verschwörungstheoretiker.

Precht hatte sogar eine konkrete, völlig aus der Luft gegriffene Schreckensvision für Spätfolgen bei geimpften Kindern im Angebot: Man wisse ja nicht, ob so ein Kind nicht später »Autoimmunerkrankungen kriegt, wenn es Mitte 20 ist«, malte er den Teufel an die Wand, um hinterherzuschieben: »Das muss nicht so sein, ich male nicht den Teufel an die Wand.« Dazwischen betonte Precht immer wieder, er sei ja kein Impfgegner.

Precht und Kimmich gehören zu den Propheten des lauteren Gewissens und »unguten Gefühls«. Beide heben, nicht nur ohne, sondern gegen alle Evidenz, darauf ab, dass mRNA-Impfstoffe doch zu neu seien, um über ihre Wirkung sichere Aussagen machen zu können, vor allem bei Jugendlichen. Die Masernimpfung dagegen will Precht verpflichtend machen.

Aber warum sollte es sicherer sein, jemandem abgetötete Krankheitserreger oder Bestandteile davon zu spritzen, als ein im Labor geschaffenes Präzisionswerkzeug einzusetzen, das genau einen Zweck erfüllt – einfach, weil man jetzt verstanden hat, wie das geht, dass man Zellen ein gewünschtes Protein produzieren lässt?  

Enorme Kompetenzzuschreibungen

Wir Menschen nehmen seit der Geburt der modernen Medizin ständig Medikamente zu uns, ohne zu wissen, wie genau sie wirken. Bei mRNA-Impfstoffen ist das anders: Sie sind Meisterwerke biotechnologischer Ingenieurskunst, die für einen ganz bestimmten Zweck hergestellt wurden und diesen auch hervorragend erfüllen. Man weiß, was sie tun, und zwar sehr genau. Bei vielem, was auch Impfverweigerer selbstverständlich zu sich nehmen, ist das völlig anders.

Aspirin zum Beispiel schlucken Menschen schon seit 120 Jahren. Wie es wirkt, entdeckte John Robert Vane aber erst 1971. Dass die Substanzen, die heute Neuroleptika genannt werden, bestimmte Symptome von Psychosen mildern können, fand man in den Fünfzigerjahren durch Zufall heraus. An ihrem genauen Wirkmechanismus wird bis heute geforscht.

Auch Penicillin, das erste Antibiotikum, wurde durch einen Zufall entdeckt. Darauf, es als Medikament einzusetzen, kam man erst knapp zehn Jahre später. So etwas passiert in der Pharmakologie häufiger. Dass dabei heutzutage extrem selten etwas schiefgeht, ist den aufwendigen Prüf- und Zulassungsverfahren zu verdanken, denen Medikamente unterliegen.

Talkshows statt Sprechzimmer

Bei mRNA und Vektorimpfstoffen dagegen ging man nicht mit Versuch und Irrtum, sondern planvoll vor. Man bringt den Körper gezielt dazu, zum Beispiel ein bestimmtes Protein zu produzieren, auf Basis eines injizierten Bauplans. Mit dem Reizwort »Gentechnik«, das auch Precht bemühte, hat das nichts zu tun: mRNA-Impfstoffe verändern nicht das menschliche Erbgut, sie nutzen lediglich die Produktionskapazitäten menschlicher Zellen. Sie tun etwas ähnliches wie Totimpfstoffe, nur viel exakter, zielgerichteter: Bauplan rein, Immunantwort raus.

Die neuen Impfstoffe werden zudem von den gleichen Institutionen akribisch geprüft wie die alten auch. Jetzt aber kommen die Leute mit den Bauchgefühlen und wollen es besser wissen. Normalerweise stehen in einer Arztpraxis keine Fußballer, Schauspieler oder Philosophen herum und mischen sich ein. Jetzt ist das so, weil die Pandemie uns alle betrifft und in Talkshows statt nur in Sprechzimmern verhandelt wird.

Das zugrundeliegende Problem ist viel größer

Die neue Corona-Eskalation ist sehr ungleich über das Land verteilt, und das ist ein Hinweis auf ein noch ungleich größeres Problem. Am schlimmsten ist sie derzeit in Sachsen, Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg. Drei dieser Bundesländer gehören zu denen, in denen die AfD bei der Bundestagswahl die höchsten Stimmanteile bekam. In Bayern und Baden-Württemberg landete sie unter dem Bundesdurchschnitt, aber dafür ist dort »Die Basis« erfolgreicher  als anderswo. Und in Bayern sitzen auch die Freien Wähler in der Regierung, die vom gerade erst geläuterten , lange »impfskeptischen« Hubert Aiwanger angeführt werden.

Der Rechtsextremist Björn Höcke ist Fraktionsvorsitzender der Thüringer AfD, Sachsen-Anhalts AfD-Vorsitzender Martin Reichardt galt als »wichtiger Unterstützer« des rechtsextremen Flügels , bis der »aufgelöst« wurde. Der Fraktionschef der Brandenburger AfD war bis 2020 der Rechtsextremist Andreas Kalbitz.

Wer dort AfD wählt, wählt also gezielt bekennende, verfassungsfeindliche Rechtsextreme.

Jetzt sterben für den Widerstand

Einer diese Woche publizierten Umfrage zufolge bekennen sich unter den in Deutschland verbleibenden Wählerinnen und Wählern ohne Impfschutz 50 Prozent zur AfD, weitere 15 Prozent zur Verschwörungstheoretikerpartei »Die Basis«. Ein Landesvorsitzender dieser Partei hat einmal erklärt: »Es geht sowieso nur noch darum, wie man sich noch vor diesem System schützen und es beseitigen kann.«

Mit anderen Worten: Zwei Drittel der ungeimpften Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen Parteien gegeben, die die liberale deutsche Demokratie ablehnen. Wir haben es mit Leuten zu tun, die jedes Vertrauen in diesen Staat und seine Institutionen verloren haben. Sicher fehlen in der Umfrage einige, Nichtwähler und Leute ohne deutsche Staatsbürgerschaft zum Beispiel. Aber die Botschaft ist trotzdem erschreckend klar.

Die vierte Welle ist politisch. Jetzt wird gestorben für den Widerstand gegen »das System«. Viele werden, einen Intubationsschlauch im Hals, zu spät Reue empfinden.

Bald 100.000 Tote

Impfverweigerung ist das neue Protestwählen, nur, dass es in diesem Fall um Leben und Tod geht. In Kürze werden in Deutschland 100.000 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben sein, trotz aller Impfungen und Lockdowns, trotz Masken und AHA-Regel. Die Leute, die zuerst behauptet haben, das Virus sei nicht schlimmer als eine Grippe, tun jetzt alles, damit dieses Virus sich noch eine Weile bei uns einrichten und weitere Menschen töten kann.

All das bedeutet, dass weite Teile der verbleibenden Ungeimpften mit gutem Zureden oder gar rationalen Argumenten nicht zu erreichen sind. Mit dieser Klientel wird Deutschland auch nach der Pandemie große Probleme haben. Nicht geimpft zu sein, ist für sie ein Ausdruck ihrer persönlichen und politischen Identität, so fehlgeleitet die auch ist.

Jetzt hilft deshalb nur noch möglichst maximaler Zwang, im Rahmen dessen, was das Grundgesetz erlaubt. Eine 2G-plus-Regel, also Zugang zu möglichst vielen öffentlichen Anlässen nur mit Impfung, Genesungsnachweis und aktuellem negativen Test sind das Minimum. Eine Impfpflicht für bestimmte Berufe gehört dazu.

Wer dem Rest der Gesellschaft die Solidarität verweigert, kann auch nicht mehr auf Solidarität für sich selbst hoffen.

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