Forscher entwickeln Szenarien So könnte die Corona-Pandemie weitergehen

Hinweiszettel für Sicherheitsabstand in einem Restaurant
Foto:Uwe Anspach/ DPA
Die Pandemie verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Sprache. Der Begriff Covid-19 gilt als heißer Kandidat für eine Aufnahme in den Duden. Lockdown, Shutdown und Social Distancing sind längst selbst im Deutschen geläufige Worte. Auch den Begriff Welle wird man wohl nie wieder so unbefangen verwenden wie früher. Jetzt verbindet man ihn mit einem sprunghaften Anstieg der Corona-Fälle, wie ihn alle betroffenen Staaten zu Beginn der Epidemie erlebt haben.
In manchen Ländern, darunter Deutschland, ist die erste Welle inzwischen vorbei. In anderen wie den USA läuft sie noch immer durch. Die bange Frage lautet: Wann kommt die zweite Welle? Und wie dramatisch wird sie ausfallen?
Zumindest die Experten des Robert Koch-Instituts (RKI) bezweifeln kaum, dass der Welt eine zweite und womöglich auch weitere Wellen ins Haus stehen. Es werde "mit großer Sicherheit" eine zweite Welle geben, so RKI-Präsident Lothar Wieler. "Das ist eine Pandemie. Und bei einer Pandemie wird dieses Virus so lange Krankheiten hervorrufen, bis 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sind."
"Die Gefahrenlage ist natürlich geringer als vor vier Wochen, aber sie ist noch da", erklärte auch Wielers Vize Lars Schaade bei einer Pressekonferenz am Dienstag. Wenn sich alle "vernünftig verhalten", habe Deutschland die Chance "eine zweite Welle zu vermeiden", so Schaade. "Steuern können wir das nur durch unser Verhalten."
"Es geht nicht darum, den Gipfel zu überwinden, wie einige Leute zu glauben scheinen", zitiert die "New York Times" den Epidemiologen Marc Lipsitch von der T.H. Chan School of Public Health der Universität Harvard in Boston. Man werde stattdessen die Pandemie über Monate und Jahre managen müssen. Eine einzige Runde von Social Distancing werde dafür nicht ausreichen, so Lipsitch.
Solche Aussagen hört niemand gern, schließlich macht sich etwa Deutschland gerade wieder locker: Fitnessstudios öffnen, Hotels empfangen Touristen, Restaurants freuen sich über Gäste. Andererseits hatten Fachleute bereits zu Beginn der Pandemie darauf hingewiesen, dass Einschränkungen des öffentlichen Lebens für eine lange Zeit notwendig sein werden. Im Zweifel so lange, bis ein wirksamer Impfstoff in ausreichender Menge vorhanden ist.
Der Epidemiologe Lipsitch gehört zu den Autoren von zwei wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich mit Prognosen zur Entwicklung der Pandemie beschäftigen. Eines der Papiere wurde kürzlich in der Fachzeitschrift "Science" veröffentlicht, das andere ist eine nicht von externen Fachkollegen begutachtete Veröffentlichung des Center for Infectious Disease Research and Policy an der University of Minnesota in Minneapolis.
In dieser Publikation entwerfen die Forscher drei mögliche Szenarien:
Szenario 1 ("Gipfel und Täler"): Nach einer ersten Welle, der aktuellen, folgen über viele Monate noch weitere. Diese bringen ähnlich hohe Fallzahlen. Erst graduell werden die Ausbrüche weniger heftig, weil die Zahl der Immunen nach durchgemachter Krankheit zunimmt. Das Auftreten der Wellen könne geografisch variieren, so die Forscher. Abhängig von der Höhe der Wellenspitzen wären immer wieder zeitweise Beschränkungen des öffentlichen Lebens nötig.
Szenario 2 ("Gipfel im Herbst"): Dieses Szenario orientiert sich am Verlauf der sogenannten Spanischen Grippe in den Jahren 1918/19. Auch Pandemien in den Jahren 1957/58 und 2009/10 seien nach diesem Muster verlaufen. Demnach folgt auf einen ersten Gipfel ein weit höherer in den folgenden Herbst- oder Wintermonaten. Wie realistisch diese Variante ist, lässt sich derzeit vor allem deswegen schwer einschätzen, weil Forscher noch zu wenig über den Effekt des Sommerwetters auf die Verbreitung des Sars-CoV-2-Virus wissen. Würde das Szenario eintreten, wären spätestens im Herbst wieder strenge Regeln nötig, um eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu vermeiden.
Szenario 3 ("Langsames Brennen"): Hier folgt auf den ersten Ausbruch eine lange unruhige Phase mit einem wiederholten Aufflackern der Epidemie, das aber nie wieder das initiale Hoch erreicht. Auch hier sind lokale Unterschiede möglich, die bei der Entscheidung über strengere Maßnahmen berücksichtigt werden müssten. "Während dieses dritte Muster bei früheren Grippepandemien nicht beobachtet wurde, bleibt es eine Möglichkeit für Covid-19", so die Forscher.
Welches der Szenarien tatsächlich eintrete, ließe sich aktuell nicht sagen, so das Team aus Minnesota. Aber: "Wir müssen auf mindestens weitere 18 bis 24 Monate bedeutender Covid-19-Aktivitäten vorbereitet sein, wobei in verschiedenen geografischen Gebieten periodisch Hotspots auftreten werden."
Szenarien basieren immer auf einer Vielzahl von Annahmen. Wer sie modifiziert, kommt zu anderen Ergebnissen. Die Ergebnisse im "Science"-Paper sind etwas weniger grafisch als die aus Minnesota. Aber auch sie sagen im Grund eines aus: Es wird immer wieder auch Zeiträume mit strengeren Kontaktbeschränkungen geben müssen. Je nach Vorannahmen geht es nur um die Frage, wie oft solche Perioden nötig sind und wie lange sie anhalten müssen.
So sei es möglich, im Sommer womöglich eine längere Phase mit weniger strengen Regeln zu haben - wenn sich der Erreger dann tatsächlich nicht so stark ausbreitet. In diesem Jahr, so die Annahme des Teams, dürfte ein saisonaler Effekt aber eher klein ausfallen, weil es einfach noch so viele Menschen gebe, deren Immunsystem dem Virus nichts entgegensetzen könne.
"Das ist nicht zu schaffen"
Als Grenze, ab der strengere Regeln gelten sollen, schlagen die Forscher 350 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner vor, allerdings könne man lokal variieren. Ein Ende der Beschränkungen sei bei 50 Fällen pro 100.000 Einwohnern denkbar. Zur Erinnerung: In Deutschland haben sich Bundesregierung und Länder darauf geeinigt, lokale Beschränkungen ab 50 Fällen pro 100.000 Einwohnern zu verhängen. Einzig Sachsen-Anhalt hat angekündigt , strengere Regeln bereits früher verhängen zu wollen. Der Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes hat die Marke von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern allerdings als zu hoch kritisiert . "Wie die Gesundheitsämter damit klarkommen sollen, ist mir ein Rätsel. Das ist nicht zu schaffen", beklagte die Verbandsvorsitzende Ute Teichert.
Aktuell liegen laut RKI-Situationsbericht vom Montag drei Landkreise über der Grenze von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner: Greiz und Sonneberg in Thüringen sowie Coesfeld in Nordrhein-Westfalen. Schaut man auf die Daten der Gesundheitsämter vor Ort, hat auch die Stadt Rosenheim im Bayern die Obergrenze gerissen. Dort möchte man übrigens einen zweifelhaften Rechentrick anwenden und Unterkünfte von Asylsuchenden aus der Statistik nehmen.
Wieder verschärfte Corona-Regeln hat es in Deutschland bisher nicht gegeben. Das wird womöglich nicht immer so bleiben können. "Wir müssen abwarten, wie die Lockerungen der Kontrollmaßnahmen tatsächlich wirken", sagt der Epidemiologe Ralf Krumkamp vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg im Gespräch mit dem SPIEGEL. Er ist einer der Autoren einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie zur Verbreitung des Virus.
Das Papier vom 27. April befasst sich vor allem mit dem Erfolg der damals geltenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Ohne die Maßnahmen, so die Experten, wäre "eine deutliche Überlastung des Gesundheitssystems zu erwarten gewesen". Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gab es etwa 2000 gemeldete Neuinfektionen pro Tag. Diese Zahl liegt inzwischen noch nicht einmal halb so hoch.
Doch war die Zeit bereits reif für die aktuellen Lockerungen? "Ich finde die Strategie etwas ambitioniert", sagt Forscher Krumkamp. "Die Politik hat an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht." In zwei bis drei Wochen werde man wissen, wie sich die Infektionszahlen entwickeln. Der Epidemiologe warnt aber bereits: "Ein Ansteigen der Fallzahlen würde dann viel schneller erfolgen als das aktuelle Absinken."
"Wenn die Krankheit auf niedrigem Niveau fortbesteht, ohne die Fähigkeit, Cluster zu untersuchen, besteht immer das Risiko, dass das Virus wieder ausbricht", warnt auch Mike Ryan vom Notfallprogramm der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Dann wäre sie da, die nächste Welle.