Christian Stöcker

Corona und Weihnachten Jesus hätte Oma nicht besucht

Christian Stöcker
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Sollen dringend nötige Corona-Maßnahmen erst nach Weihnachten gelten? Die Debatte ist absurd – und hat mit einer falschen Überhöhung des Fests zu tun. Dabei ist völlig klar, was die Nächstenliebe gebietet.
Foto: dardespot / Getty Images

Man vergisst in diesen Tagen leicht mal, worum es wirklich geht, und was dafür zu tun ist. Ist ja so viel los, Vorweihnachtsstress, Geschenke kaufen, Sachen vorbereiten, Jahresabschluss über die Bühne bringen, schnell noch dies, schnell noch das. »Besinnlich« ist die Adventszeit für viele Leute spätestens ab der Volljährigkeit schon lange nicht mehr.

Worum es wirklich geht: Es sollen möglichst wenige Menschen allein und isoliert in einem Krankenhausbett sterben müssen. Alles daran zu setzen, dass möglichst viele dieser unnötigen, einsamen Tode vermieden werden – was könnte »weihnachtlicher« sein? Was passt besser zum »Fest der Liebe« als gelebte Nächstenliebe in dieser Form?

Was dafür zu tun ist: Alle Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus haben die gleiche Grundlage, und das gerät offenbar vielen Menschen immer wieder aus dem Blick. Es geht darum, sich selbst so zu verhalten, als sei man möglicherweise infiziert.

Jetzt ist es raus.

Wir alle müssen uns so benehmen, als seien wir potentielle Überträger eines Virus, das derzeit in unserem medizinisch bestens versorgten Hochtechnologieland Hunderte von Menschen pro Tag tötet. Und so, als treffe das auch auf alle Menschen zu, denen wir begegnen, ob wir sie nun kennen oder nicht, mögen oder nicht, lieben oder nicht.

Dabei steht uns leider unsere eigene Psyche im Weg. Aber weil wir das wissen, können wir uns dem auch widersetzen.

Handeln Sie, als seien Sie infiziert

Deshalb tragen wir Masken, deshalb waschen wir uns ständig die Hände, deshalb halten wir Abstand voneinander. Deshalb sollten wir uns keinesfalls in größeren Gruppen versammeln. Handeln Sie so, als wüssten Sie, dass sie infiziert sind, so bitter das klingt. Dann, und nur dann, stellen Sie sicher, dass Sie nicht versehentlich jemanden umbringen. Womöglich jemanden, den Sie lieben.

Die monatelange Debatte über die Frage, was denn nun mit Weihnachten werde, sei ein riesiger politischer Fehler gewesen, hat mir ein Freund diese Woche gesagt (im Rahmen eines abendlichen Videokonferenz-Umtrunks), und er hat absolut recht: Wenn wir nur bis Weihnachten durchhalten, dann wird alles wieder gut – das war von Anfang an eine irreführende, gefährliche Illusion. Und es überhöht einmal mehr dieses zweifellos schöne jährliche Ritual in einer Weise, die im Angesicht von Hunderten Toten jeden Tag völlig unverhältnismäßig und unangemessen ist.

Um es noch einmal so brutal wie die Bundeskanzlerin zu sagen: Wenn Sie dieses Jahr nicht mit Ihren Großeltern Weihnachten feiern, werden Sie und Ihre Großeltern das überleben. Wenn sie es doch tun, ist das mit dem Überleben nicht garantiert.

Es gibt zwei Ausnahmen

Natürlich gibt es Vorsichtsmaßnahmen, die es ermöglichen, mit relativ geringem Risiko doch mit den Verwandten zu feiern: Wenn Sie einen negativen Coronatest haben und danach bis Heiligabend niemanden mehr treffen, wenn Sie zwei Wochen vor dem Fest konsequente Selbstisolation betreiben, dann ist davon auszugehen, dass die »Ich könnte selbst Überträger sein«-Regel für Sie vorübergehend nicht gilt. Schon wenn man schulpflichtige Kinder hat, wird einem das aber im Moment sehr schwer gemacht.

Das sind aber die einzigen Ausnahmen. Wenn diese Ausnahmen auf Sie nicht zutreffen, sind sie für die Menschen, die sie zum »Fest der Liebe« unbedingt treffen möchten, ein reales Risiko.

Es ist aus meiner Sicht ein großes politisches Versagen, dass diese simple Tatsache im Moment nicht überall klar und einstimmig kommuniziert und auch nicht entsprechend gehandelt wird. Die Schulen jetzt noch mal ein paar Tage offen zu lassen, ist so sinnlos wie gefährlich (erinnern Sie sich noch, was in der Schule in der Woche vor den Weihnachtsferien so gemacht wird?). Das öffentliche Leben vielerorts eben doch weiterlaufen zu lassen, damit das Weihnachtsgeschäft keinen Schaden nimmt, das ist ein Zugeständnis an die völlig überhöhte Bedeutung, die diesem für die meisten Menschen hierzulande in Wahrheit längst völlig unreligiösen familiären Ritual zugemessen wird. Und seiner Bedeutung für »den Markt«.

Der Preis ist zu hoch

Schon jetzt ist klar, dass wegen dieser Überhöhung, wegen des Zögerns und Zauderns der Politik in den kommenden Wochen Tausende Menschen sterben werden, die nicht hätten sterben müssen. Dieser Preis ist zu hoch. Dass Deutschland ihn bezahlen wird, hat mit Unvernunft, aber auch viel mit politischer Feigheit zu tun.

Natürlich ist es traurig, wenn ältere Menschen jetzt Weihnachten womöglich allein zu Hause verbringen müssen. Aber nicht so traurig wie der einsame Tod auf der Intensivstation. Wer nicht in der Lage ist, die zwei oben beschriebenen Ausnahmen herzustellen, der sollte deshalb sehr gründlich überlegen, ob er bereit ist, Omas und Opas Leben aufs Spiel zu setzen, damit dem Ritual Genüge getan ist.

Was die Nächstenliebe in diesen Tagen gebietet, ist völlig klar, wenn man sich noch einmal selbst vor Augen führt, worum es wirklich geht und was dafür zu tun ist, siehe oben.

Jesus hätte Oma dieses Jahr nicht besucht. Aber stattdessen vielleicht ab sofort mal jeden Tag mit ihr telefoniert. Oder ihr sogar telefonisch beigebracht, Skype, Facetime, WhatsApp-Video, Hangouts oder eines der vielen anderen entsprechenden Werkzeuge zu benutzen. Noch nie war es so einfach wie heute, Präsenz herzustellen, ohne physisch anwesend zu sein.

Wenn das »Fest der Liebe« nur als solches funktioniert, wenn dabei gemeinsam Geschenkpapier zerrissen und jede Menge Essen vertilgt wird, kann es mit der Liebe nicht weit her sein.

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