Darwins Selektionstheorie Der zaudernde Evoluzzer
Der Revolutionär hatte viele Namen: Zunächst nannten sie ihn Gas, dann Fliegenfänger. Später wurde er Affe geschimpft und Ketzer. Heute bezeichnen ihn Forscher als einen der bedeutendsten Naturforscher überhaupt. Charles Robert Darwin glückte, was nur selten einem Wissenschaftler gelingt: Er hat vor 150 Jahren eine These aufgestellt, die auch heute noch so plausibel erscheint, dass kein anderer Forscher sie bislang widerlegen konnte.
Laut Darwins Evolutionstheorie verändern sich alle Lebewesen im Lauf von Millionen von Jahren, sie entwickeln sich weiter, passen sich an ihre Umgebung an oder sterben aus. Für einen Gott, der die Tiere und Pflanzen binnen eines kurzen - nicht sehr weit zurückliegenden - Zeitraumes unveränderlich geschaffen hat, ist in diesem Weltbild kein Platz.
Doch wie wurde aus dem jungen, gelangweilten Medizinstudenten Darwin ein begeisterter Naturwissenschaftler? Wie aus dem unzufriedenen Theologen, der ein unspektakuläres Leben als Dorfpfarrer hätte verbringen können, ein Ketzer?
Darwins Weg beginnt vielleicht schon im Gewächshaus seines Vaters, wo er experimentieren darf, vielleicht auf den Wiesen im britischen Shrewsbury, wo er Käfer, Würmer und Spinnen sammelt. Den wichtigsten Schritt tut Darwin aber sicherlich, als er 1831 den Fuß auf jenes Schiff setzt, auf dem er fünf Jahre um die Welt segeln und lernen wird, die Natur mit anderen Augen zu sehen: die "HMS Beagle".
"Ein Delirium des Entzückens"
Die "Beagle" ist im Auftrag der britischen Kriegsmarine unterwegs. Ihre Mission: die südamerikanischen Küsten vermessen und kartieren.
Kapitän Robert FitzRoy führt ein strenges Regiment über die 73 Mann starke Crew, die im Dezember 1831 in See sticht. Ein Naturforscher wie Darwin, befindet der 26-jährige Seemann, könnte der Mannschaft zu Ruhm und Ehre gereichen: Das Schiff ist für naturwissenschaftliche Zwecke ausgestattet, auf der Route sind mehrere Landaufenthalte geplant.
Doch das von Darwin lang ersehnte Abenteuer beginnt beschwerlich: Der 22-Jährige wird seekrank. Wochenlang leidet er unter Übelkeit und kann sich nirgends zurückziehen. Der hölzerne Dreimaster bietet mit seinen 70 Metern Länge und sieben Metern Breite nur wenig Raum für über 70 Männer. Darwin muss seine Kabine mit drei anderen Seeleuten teilen - und hat mit dem Leben auf See durchaus seine Probleme, wie etwa der Fernsehbeitrag "Darwin - Kaplan des Teufels?" von National Geographic zeigte, der jüngst im ZDF lief: "Ich hatte die lächerlichsten Schwierigkeiten, in meine Hängematte zu gelangen", wird Darwin zitiert. "Der Trick war, mit dem Hinterteil zuerst hineinzusteigen."
Der erste Lichtblick: Die Ankunft in Brasilien im Februar 1832. Darwins Lebensgeister erwachen: "Der Dschungel ist ein einziges großes, wildes, ungeordnetes Treibhaus", schreibt er. "Ich geriet in ein Delirium des Entzückens. Ich war ganz benommen von der Schönheit der Vegetation, der Eleganz der Gräser, dem schimmernden Grün des Laubes. Und man stelle sich vor, dass man ein solches Vergnügen als Pflicht bezeichnet."
3907 etikettierte Knochen, 1529 konservierte Tiere
Schon in Argentinien beginnt Darwin, sich über die Natur zu wundern. Bei einem Landausflug gräbt er mehrere Fossilien riesiger Säugetiere aus. Schnell ist ihm klar: Die Knochen stammen von unbekannten Tieren, die längst ausgestorben sind. "Früher muss es hier von Ungeheuern gewimmelt haben", meint der Forscher. Doch gab es möglicherweise eine Verbindung zwischen diesen und noch lebenden Wesen? Warum starb die eine Art aus, während eine andere weiterlebte?
Im September 1835 nimmt die "Beagle" Kurs auf Galapagos. Dieser Teil der Reise ist es, schreibt Darwin später, der ihn "hauptsächlich auf das Studium des Ursprungs der Arten geführt" habe. Der Forscher streift fünf Wochen lang über den Archipel, bestaunt und fängt Vögel, Leguane, Insekten und Krabben.
Atheismus und Religion
Der
Fundamentalismus im Tarnkleid: Vertreter des
Das Hauptargument der Intelligent-Design-Anhänger gegen die Evolutionstheorie lautet, dass die heute existierenden Lebewesen zu komplex seien, als dass sie durch natürliche Auslese hätten entstehen können. Auch die sogenannte
Der Glaube an die göttliche Schöpfung ist weit verbreitet - wenn auch nicht so weit, wie manche Kreationisten gern behaupten. Im August 2006 haben US-Forscher im Fachblatt "Science" Umfragen der vergangenen 20 Jahre in den USA, Japan und 32 europäischen Staaten untersucht. Das Ergebnis: In Island, Dänemark, Schweden, Frankreich und Japan glauben jeweils weniger als 20 Prozent der Bevölkerung an eine göttliche Schöpfung. Deutschland lag auf Platz zehn mit einer Evolutionsakzeptanz von etwas über 70 Prozent. 22 Prozent glaubten an eine göttliche Schöpfung, der Rest war unsicher. Die USA landeten auf dem vorletzten Platz - vor der Türkei. Nur 40 Prozent glauben in den USA an die Evolutionstheorie, 39 Prozent an die biblische Schöpfung - mit einer Tendenz zugunsten der Religion.
Wie problematisch solche Umfragen aber sind, zeigen schon die vielen unterschiedlichen Erhebungen in den USA: Je nachdem, wie die Fragen gestellt wurden, rangierte der Anteil der Schöpfungsgläubigen grob zwischen 45 und 55 Prozent. Rund 30 bis 40 Prozent glaubten, dass eine Evolution zwar stattfinde, aber von Gott beeinflusst werde. Nur rund zehn Prozent der US-Bürger geben in den regelmäßigen Umfragen an, dass Gott überhaupt keine Rolle bei der Entwicklung des Lebens und der Menschen spielt.
Auch in Deutschland brachte eine Emnid-Erhebung von 2005 ein weniger erfreuliches Ergebnis als die "Science"-Studie: Jeder zweite Befragte gab an, eine höhere Macht habe die Erde und das Leben erschaffen. Einen klaren Unterschied gab es zwischen den alten und neuen Bundesländern: Im Osten glauben demnach 35 Prozent, im Westen 54 Prozent an eine schöpferische Macht außerhalb der Naturgesetze. Bei einer Umfrage an der Uni Dortmund stellte sich 2007 heraus, dass sogar jeder achte Lehramtsstudienanfänger an der Evolution zweifelt.
Als
Einer der weltweit führenden Neuen Atheisten ist
Mehr zufällig sammelt er auch jene Vögel ein, an denen er später seine Selektionstheorie entwickeln wird: die Darwin-Finken, die er damals noch für unterschiedliche Arten hält.
Am Ende der Reise hat Darwin 1529 Tiere in Alkohol konserviert, 3907 Knochen, Krallen, Schnäbel und Häute etikettiert und über 2000 Seiten über die Geologie und die Tier- und Pflanzenwelt verfasst.
"Die Theorie zu veröffentlichen, ist, wie einen Mord zu gestehen"
Erst nach seiner Rückkehr im Spätsommer 1836 arbeitet sich Darwin langsam und mit Hilfe anderer Wissenschaftler durch seine Tiersammlung. Vor allem der Ornithologe John Gould liefert ihm den wichtigsten Gedankenanstoß. Er stellt fest, dass die Vögel, die Darwin für Spottdrosseln, Kernbeißer und Zaunkönige hält, alle eng miteinander verwandt sind. Mehr noch: Eine klare Abgrenzung der Arten ist nicht möglich, es sind allesamt Finken. Im Grunde unterscheiden sich nur ihre Schnäbel.
Darwin ist verwirrt: Wenn alle Arten - von Gott geschaffen - unveränderlich sind, warum unterscheiden sich diese Finken hauptsächlich in ihrer Schnabelform? Hatten sie sich vielleicht an die Bedingungen der verschiedenen Vegetationen auf den Galapagos-Inseln angepasst? Hatten nicht jene Vögel kurze Schnäbel, die Früchte knacken mussten, und solche Tiere lange Schnäbel, die Insekten aus dem Boden ziehen mussten? Dass Gott für jede Insel einen eigenen Finken geschaffen hatte, kann Darwin sich nicht vorstellen. Die Tiere mussten aus ein- und demselben Urahn hervorgegangen sein - die Evolutionstheorie war geboren.
In seiner Ideenskizze "I think" von 1837 zeichnet Darwin einen Stammbaum des Lebens. Danach spalten sich die Arten immer wieder auf, entwickeln sich weiter oder verschwinden. Jene, die sich am besten anpassen können, überleben, die anderen sterben. "Sobald man eingeräumt hat, dass eine Art in eine andere übergehen kann, wankt und stürzt das ganze Gebäude", notiert Darwin, wie das Magazin Epoc für seine aktuelle Ausgabe recherchiert hat. Denn seine Selektionstheorie steht in krassem Widerspruch zur Unveränderlichkeit der Geschöpfe, die von der Kirche propagiert wird.
Darwin behält seine blasphemischen Gedanken für sich. Zwar spricht er öffentlich über geologische Erkenntnisse, nach denen die Erde nicht wie damals angenommen nur wenige tausend Jahre alt ist, sondern schon vor Millionen von Jahren entstanden sein muss. Doch dass sich Tierarten verändern, behält er ebenso für sich wie die "Affenfrage", wonach der Mensch vom Affen abstammt.
Darwin hat Angst, seinen guten Ruf als Forscher zu ruinieren. Und er fürchtet die Reaktionen der Kirche auf seine ketzerische Evolutionstheorie - vor allem seine strenggläubige Familie hätte darunter zu leiden. Zwei Jahrzehnte brütet Darwin über seinen Erkenntnissen, sucht nach immer neuen Beweisen für seine Hypothesen.
"Sicher werden sie mich am liebsten kreuzigen"
Währenddessen streift Alfred Russel Wallace durch den malaysischen Dschungel. Um seine Reise zu finanzieren, verkauft er Schmetterlinge, Pflanzen und Vögel an Londoner Museen. Ohne die leiseste Ahnung von Darwins Thesen zu haben, entwickelt Wallace eine eigene Theorie über die Entstehung der Arten. Aus seinen Tierbeobachtungen und anhand der über 125.000 Insekten, Vögel und Reptilien, die er gesammelt hat, schlussfolgert er, dass sich die Arten im Lauf von Jahrtausenden weiterentwickelt haben müssen. Ziel dieser Veränderung: eine Anpassung an die sich verändernden Lebensumstände. Was Darwin in 20 Jahren nicht schafft, bringt Wallace in wenigen Wochen zu Papier. Seine Theorie schickt er an einen britischen Forscher, den er sehr verehrt - Charles Darwin.
Als Darwin am 18. Juni 1858 die Post von den Molukken liest, sieht er sein Lebenswerk gefährdet: Wallace hat im Wesentlichen ähnliche Theorien aufgestellt wie er selbst. In aller Eile schreibt Darwin eine Zusammenfassung aus 20 Jahren Arbeit. Er entschließt sich zu einem Kompromiss: Gemeinsam mit dem Manuskript von Wallace veröffentlicht er seine Evolutionstheorie. "Die Theorie zu veröffentlichen, ist so, als würde man einen Mord gestehen", schreibt er an einen Kollegen. "Sicher werden sie mich am liebsten lebendig kreuzigen."
Doch die Veröffentlichung bleibt fast unbeachtet. Erst als Darwin ein Jahr später seine Theorie in dem Buch "Über die Entstehung der Arten" niederschreibt, kommt es zum Aufruhr. Darwin wird als Ketzer beschimpft und als Affe karikiert. Ein erbitterter Kampf zwischen Wissenschaft und Kirche beginnt, der bis heute andauert. In den USA glaubt noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung, Gott habe den Menschen vor rund 10.000 Jahren so geschaffen, wie er ist. Darwins Ideen sind auch heute noch für viele zu fortschrittlich, um sie zu akzeptieren.