Das Wissenschaftsjahr 2000 (1) Wettlauf um das Erbgut

Kein Thema hat die Wissenschaft im Jahr 2000 so geprägt wie das Erbgut und dessen Entzifferung: Die Gensequenz von Mensch, Fliege und Pflanze stellt mittlerweile kaum ein Geheimnis mehr dar.

Hamburg - Damit legten die Wissenschaftler das Fundament für die Zukunft von Medizin und Biotechnik. Immer wieder gelang es dem einfallsreichen Genetiker und Unternehmer Craig Venter, die staatlichen Wissenschaftler zu überholen.

Gleich im Januar schockiert Venter die öffentliche Forschergemeinschaft mit der Nachricht, sein Unternehmen habe eine Skizze von 90 Prozent des menschlichen Erbguts vorliegen. Allerdings nutzt Celera Genomics in Rockville (Maryland) dazu auch Daten des staatlich geförderten, internationalen Human Genome Projects (HGP). Die Konkurrenz hat zu dieser Zeit gerade einmal 54 Prozent des Erbguts in ähnlicher Qualität entziffert.

Im März legt Venters Team noch einen Schlag nach und präsentiert im Fachjournal "Science" die Erbgutsequenz der Fliege Drosophila melanogaster. Bereits zuvor waren viele einzelne Gene dieses pflegeleichten und rasch vermehrbaren Lieblingstiers der Genetiker bekannt. 60 Prozent des Genoms sind mit dem des Menschen identisch.

Am 6. April trifft Venter die staatlichen Forscher hart mit der Nachricht, sein Team habe 99 Prozent des menschlichen Erbguts entziffert. Allerdings sei noch einige Zeit nötig, um die Gen-Bausteine komplett zu ordnen.

Im Mai kontern die staatlich finanzierte Forscher aus Deutschland und Japan: Sie präsentieren das Erbgut des menschlichen Chromosoms 21. Der zweite entzifferte Erbgutträger des Menschen spielt beim Down-Syndrom eine Rolle. Die Daten seien wesentlich besser als die von Celera, heißt es. 103 der 225 Chromosomen-Gene sind nicht nur entschlüsselt, ihre Funktion ist auch bereits bekannt.

Am 26. Juni begraben Venter und das Human Genome Project das Kriegsbeil - zumindest vorübergehend: Sie präsentieren einmütig eine grobe Karte des menschlichen Erbguts. Der HGP-Forscher Francis Collins dankt Venter für seine Bereitschaft, die Ergebnisse gemeinsam zu veröffentlichen und auszutauschen.

Doch die Grobkartierung des Erbguts kann nur den ersten Schritt darstellen. Es folgt die Aufgabe, den Sinn der unzähligen Gen-Bausteine zu erkennen. Und auch hier hat Venter die Nase vorne: Er verkündet im Oktober, 95 Prozent des Mäuse-Genoms entziffert zu haben. Da das Erbgut der Maus zum Großteil mit demjenigen des Menschen überein stimmt, kann mit Hilfe der Nager auch die Erforschung der Funktion der menschlichen Gene leichter vonstatten gehen.

Im Dezember schließlich präsentieren staatliche und private Labors aus sieben Ländern gemeinsam das Erbgut einer Pflanze, der Ackerschmalwand. Die künftige Kenntnis der Funktion aller Gene könnte vor allem dazu dienen, widerstandsfähigere und ertragsreichere Nutzpflanzen zu züchten.

Noch ist von großen Teilen des Erbguts vieler Organismen erst die Baustein-Reihenfolge bekannt. Doch einige Genfunktionen kennen die Forscher schon, was zu Erfolgen in der Medizin führt: Kinder mit einer erblich bedingten Immunschwäche können in Frankreich ihre Isolierstation verlassen, weil Ärzte ihnen neue Gene einschleusten. In der Krebstherapie bringt die Firma Roche mit Herceptin das erste Medikament auf den Markt, das gezielt nur bei Brustkrebs wirkt.

Zumindest im Tierversuch ist auch die Stammzellforschung erfolgreich: Forscher züchten aus Stammzellen von erwachsenen Tieren unter anderem Nervenzellen und reparieren Herzmuskeln. Das schottische Unternehmen PPL Therapeutics präsentiert im März die ersten geklonten Schweine, die als Organspender für den Menschen dienen sollten. Es stellt die Versuche jedoch wieder ein. Die Gefahr, auch Viren zu übertragen, war zu groß.

Das Jahr bringt zudem viele ethische Diskussionen: In den USA wählen Eltern erstmals gezielt einen künstlich erzeugten Embryo aus, um Zellen aus dessen Nabelschnurblut auf die kranke Tochter übertragen zu lassen. Schließlich spricht sich auch noch das britische Parlament für das Klonen menschlicher Embryozellen aus - und löst damit eine europaweite Debatte aus, die weit ins kommende Jahr fortdauern wird.

Simone Humml, dpa

Lesen Sie morgen im zweiten Teil des Jahres-Rückblicks: Der Griff nach den Sternen

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