DER SPIEGEL

Datenlese 175 Jahre im Zeitraffer

Eine Deutschlandkarte mit Beulen, denen man beim Wachsen und Schrumpfen zusehen kann - unsere Animation zeigt, wie sich die Verteilung der Einwohner langfristig entwickelt hat. Dabei wird deutlich: Schuld an der Entvölkerung des Ostens ist nicht allein die DDR.

Unsere interaktive Karte startet Mitte des 19. Jahrhunderts. Deutschland ist darin aufgeteilt in 96 Regionen, deren Größe ihre Einwohnerzahl widerspiegeln - eine ungewohnte, mathematisch nicht ganz präzise, aber sehr aussagekräftige Darstellung. Möglich wurde sie durch Daten des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung  in Rostock. Alle Details der Auswertung finden Sie in unserem Making-of.

Beginnen wir also im Jahr 1855. Zunächst gewinnen beinahe alle Regionen. Vor allem wegen der Industrialisierung wächst die Bevölkerung teils rasant - und das fast 100 Jahre lang, bis etwa 1950. Deutschland wird vom Aus- zum Einwandererland. Gleichzeitig sterben drastisch weniger Menschen im Kindesalter. Die Geburtenrate sinkt zwar auch, aber viel langsamer.

Das so entstandene starke Wachstum in ganz Deutschland überdeckt einen entscheidenden Unterschied: Der Zuwachs im Osten war schon von 1885 bis 1910 deutlich schwächer als im Westen. Daher verliert der Osten Deutschlands schon ab etwa 1895 an Gewicht, in der Animation wird dieser Effekt überdeutlich: Die ostdeutschen Regionen schrumpfen.

Es war also nicht nur die DDR, die Ostdeutschland ausbluten ließ. Vielmehr hatte der Schwund schon zwei Generationen vor Gründung des Arbeiter- und Bauernstaats eingesetzt, nicht so rapide wie vor dem Bau der Mauer und nach deren Fall, aber über mehr als 50 Jahre. Beide Faktoren zusammen ergeben heute das dramatische Bild in weiten Teilen Ostdeutschlands.

Ein Schwerpunkt auf Wanderschaft

Doch nicht nur im Osten offenbart die Langzeitanalyse erstaunliche Entwicklungen: Der Süden, seit Jahrzehnten als Boomregion bekannt, verliert bis etwa 1910 an Gewicht, und zwar in ähnlich massiver Weise wie später der Osten. Max-Planck-Forscher Sebastian Klüsener sieht dafür einen entscheidenden Faktor: die Lage fernab der Montanregionen und Häfen weiter nördlich, die schon damals von der Globalisierung profitierten.

Der relative Bevölkerungsgewinn beginnt im Süden erst nach dem Zweiten Weltkrieg und setzt sich bis heute fort. Wie stark der demografische Absturz des Südens bis 1910 war, zeigt die Tatsache, dass er bis heute seinen Bevölkerungsanteil von 1816 noch nicht wieder erreicht hat.

Der Norden gewinnt zwar nach dem Zweiten Weltkrieg auch deutlich durch den Flüchtlingsstrom aus dem Osten, verändert nach 1950 aber sein Gewicht innerhalb Deutschlands kaum noch. Berechnet man, wie der Bevölkerungsschwerpunkt von ganz Deutschland in den heutigen Grenzen während 175 Jahren inklusive der Prognose bis 2030 wandert, ergibt sich eine Kurve zwischen Bad Salzungen und Bad Hersfeld.

Der Osten legt ab 1855 noch mehrere Jahrzehnte zu, um dann zunächst gemächlich, ab 1950 rapide abzunehmen. Gleichzeitig verlagert sich der Schwerpunkt zunächst von Süd nach Nord und dann in die umgekehrte Richtung fast genauso stark.

Wird sich der Osten also immer weiter entvölkern? Nicht zwangsläufig, sagt Demografie-Wissenschaftler Klüsener. Der Aufstieg des Südens nach dem Zweiten Weltkrieg zeige, dass selbst langfristige Entwicklungen durchaus umkehrbar seien. Ostdeutschland könne von dem Potential Zentraleuropas profitieren, wenn die europäische Integration weitergehe.

Demnach könnte der Schwerpunkt seine Wanderungsrichtung also erneut ändern, statt wie vorhergesagt weiter nach Südwesten zu driften. Es lohnt sich also, die Bevölkerung Deutschlands weiter im Auge zu behalten.

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