Durchbruch Mathematiker berechnen hochkomplexe Symmetrien

Einem Team von 18 Mathematikern sind neue Einblicke in die äußerst komplizierte Struktur sogenannter Lie-Gruppen geglückt. Das Ergebnis, eine Matrix aus 453.060 Zeilen und Spalten, könnte Physikern dabei helfen, verschiedene Theorien zu vereinigen.

Mathematiker hatten es noch nie besonders leicht, Laien ihre Forschungsergebnisse zu erklären. Jeffrey Adams von der University of Maryland und seine Kollegen von Instituten aus den USA und Europa griffen deshalb zu spektakulären Vergleichen, um ihren Durchbruch bei der Lie-Gruppe E8 zu veranschaulichen: "Eine Kalkulation von der Größe Manhattans", lautet die Überschrift ihrer Pressemitteilung, ausgedruckt würde das Ergebnis die US-Metropole bedecken. Die Berechung umfasse 60 Gigabyte Daten, schreiben die Mathematiker und vergleichen ihre Arbeit mit dem Humangenomeprojekt, das nicht einmal ein Gigabyte Informationen umfasst.

Was die 18 Mathematiker genau berechnet haben, lässt sich Nichtmathematikern kaum vermitteln, das ist auch Projektleiter Adams klar: "Wenn die Leute meinen, wir seien verrückt, dann haben sie in gewissem Sinn Recht. Aber das ist Mathematik auf höchster Stufe", sagte er der Londoner Zeitung "The Times". Es sei das Interessanteste überhaupt, das er sich vorstellen könne.

Bereits vor mehr als hundert Jahren beschäftigten sich Mathematiker wie Wilhelm Killing und Elie Cartan mit Symmetrien in höherdimensionalen Räumen. Dabei stellten sie fest, dass es in bestimmten Dimensionen einzigartige Symmetrien gibt - man nennt sie auch exzeptionelle Lie-Gruppen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Symmetrie kontinuierlich ist.

Ein Beispiel für kontinuierliche Symmetrie sind Kreis und Kugel: Solange die Symmetrieachse oder -ebene durch den Mittelpunkt verläuft, lässt sie sich beliebig drehen. Dies ist bei einem Sechseck oder Würfel nicht der Fall, hier spricht man von diskreter Symmetrie. Es gibt genau fünf verschiedene exzeptionelle Lie-Gruppen: G2, F4, E6, E7 und E8. E8 ist die komplexeste, sie enthält alle vier anderen Gruppen und hat die Dimension 248.

"Unter den Lie-Gruppen ist E8 ein absolut einzigartiges Gebilde", sagte Hermann Nicolai, Direktor Albert-Einstein-Institut in Potsdam-Golm, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Die Kenntnis dieser Symmetrie sei jedoch bislang unvollständig gewesen. "Uns fehlte das Verständnis für die 'Botanik der Lie-Gruppe'." Deshalb sei der nun erfolgte Durchbruch umso wichtiger.

Oberstes Prinzip: Symmetrie

Auch Physiker arbeiten in ihren Theorien schon sehr lange mit Lie-Gruppen. Nicht nur Nicolai erwartet, dass sie eine zentrale Rolle bei der Vereinigung von Gravitation und Materiewechselwirkungen zu einer Theorie der Quantengravitation spielen könnten.

"Symmetrie ist möglicherweise das erfolgreichste Prinzip der Physik überhaupt", sagte Nicolai. So sei beispielsweise die Erweiterung von räumlichen Symmetrien auf Raum-Zeit-Symmetrien ein wesentlicher Schritt zu Albert Einsteins spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie gewesen. Insofern sei die Beschäftigung mit höherdimensionalen Symmetrien wie der Lie-Gruppe E8 viel versprechend, auch um bisher nicht kompatible Theorien zusammenzuführen. "In der Gravitation hat die Symmetrie eine etwas andere Form als bei den Elementarteilchen." Die große Frage laute: "Wie bringt man das unter einen Hut? Welche Symmetrie liegt all dem zu Grunde?"

Matrix mit 205 Milliarden Einträgen

Das Projekt zur Berechnung aller Darstellungen der Lie-Gruppe E8 begann von vier Jahren. Die Hauptschwierigkeit bestand in der Programmierung. "Nachdem wir die zugrundeliegende Mathematik verstanden hatten, dauerte es zwei Jahre, bis wir sie für den Computer übersetzt hatten", sagte David Vogan vom MIT. Danach standen die Forscher vor dem Problem, einen geeigneten Großrechner zu finden. Es dauerte ein weiteres Jahr, um die Berechnung zu optimieren, so dass sie auf verfügbaren Supercomputern ausgeführt werden konnte.

Schließlich brauchte der Großrechner Sage an der University of Washington 77 Stunden, bis das Ergebnis feststand. Es besteht aus einer Matrix mit 453.060 Zeilen und Spalten. Die Matrix hat 205 Milliarden Einträge, jedes ist ein Polynom.

Mit der Berechnung aller möglichen E8-Repräsentation ist die Arbeit freilich nicht beendet. Viele Implikationen seien noch unverstanden, sagte Projektleiter Adams. "Unsere Ergebnisse sind ein Grundwerkzeug für alle, die sich mit dem Thema beschäftigen." Der Potsdamer Physiker Nicolai weiß, dass die Berechnungen gut zu gebrauchen sind: "Die Lie-Gruppe E8 taucht an allen möglichen Ecken und Enden auf."

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