
Tunnel-Archäologie: Auf der Spur der Schienen
Archäologie Tauchtrip zu vergessenem Eisenbahntunnel
England hatte eins für den Kohletransport, Amerika wollte eins quer über den ganzen Kontinent - da wollte auch Deutschland nicht zurückstehen: Ein Eisenbahnnetz musste her.
Am 7. Dezember 1835 um Punkt neun Uhr war es soweit. Ein Kanonenschlag gab den Startschuss für die "Adler". Die Dampflokomotive der Königlich privilegierten Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft transportierte fortan als erste Lok regelmäßig Personen und Waren auf deutschem Boden. Damit hatte das Eisenbahnfieber auch Deutschland gepackt.
Der Andrang war riesig. Jeder wollte mit der "Adler" fahren, die Zeitungen überschlugen sich mit Lob auf den Beginn einer neuen Ära. Investoren witterten ihre Chance - die Zukunft lag auf den Schienen. Überall wurden neue Eisenbahngesellschaften gegründet, neue Strecken geplant, junge Ingenieure angeheuert. Das hat Spuren hinterlassen, für die sich auch Archäologen interessieren.

Tunnel-Archäologie: Auf der Spur der Schienen
Einen vergessenen Streckenabschnitt aus den frühen Tagen des Eisenbahnbaus haben der Kieler Archäologe Fritz Jürgens sowie sein Westfalener Kollege Nils Wolpert im Eggegebirge untersucht: einen Tunnel bei Willebadessen, der den eisernen Dampfrössern den Weg durch die Egge erleichtern sollte. "Der Tunnel ist wie eine Zeitkapsel", freut sich Ausgräber Jürgens, "denn alle anderen Eisenbahnstrecken aus dieser Zeit sind längst modern überbaut". Das Eggegebirge erstreckt sich östlich von Paderborn und ist bis etwa 460 Meter hoch.
Im Jahr 1846 nahm die Cöln-Minden-Thüringer Verbindungs-Eisenbahn-Gesellschaft ein ambitioniertes Projekt in Angriff. Die geplante Strecke sollte die hessische Landesgrenze mit Lippstadt verbinden - doch dazwischen lag die Egge, deren Pässe zwischen den bis zu 464 Meter hohen Kuppen zu viel für die damals noch schwachen Maschinen der frühen Dampflokomotiven waren. Die Tunnelbau-Technologie aber steckte Mitte des 19. Jahrhunderts noch ebenso in den Kinderschuhen wie der Eisenbahnbau. "Es gab noch nicht einmal eine einheitliche Technik für den Tunnelbau", erklärt Jürgens.
Einsatz mit Tauchern
Zum Glück gelang es der Eisenbahngesellschaft, einen der Besten für die Planung des knapp 560 Meter langen Tunnels zu gewinnen. Der Magdeburger Ingenieur August Pickel hatte sein Handwerk in England bei Robert Stephenson gelernt, der gemeinsam mit seinem Vater George zu den großen Pionieren des Eisenbahnbaus zählte.
Die Reste von Pickels Tunnel fanden Jürgens und Wolpert diesen Winter - unter dreieinhalb Metern Wasser. Gemeinsam mit Tauchspezialisten der Universität Kiel erkundeten sie den verschütteten Einstieg zum Stollen und seine Konstruktionsweise.

Ausgegraben: Bilder und Geschichten aus der Archäologie
"Zunächst trieben die Arbeiter nur diesen etwa 1,80 bis 2 Meter hohen Stollen von beiden Seiten durch den Berg", erklärt Wolpert die Methode. "Erst später wäre der Tunnel auf sieben Meter Deckenhöhe erweitert worden." Damit die Arbeiten schneller vorangingen, lies Pickel auch von oben Schächte in den Boden treiben. Waren die Arbeiter auf Gleisebene angelangt, gruben sie in beide Richtungen. "Bei drei Schächten und zwei Eingängen konnte so an acht Stellen gleichzeitig an dem Stollen gearbeitet werden."
Schon 1847 aber kamen die rasanten Fortschritte jäh ins Stocken. Durch Missernten gestiegene Lebensmittelpreise und waghalsige Spekulationen mit Eisenbahnaktien hatten die Wirtschaft ins Taumeln gebracht. Das anfangs so reichlich geflossene Geld blieb aus, die Cöln-Minden-Thüringer Verbindungs-Eisenbahn-Gesellschaft konnte die Löhne für Arbeiter und Ingenieure nicht mehr bezahlen. "In den lokalen Legenden der Egge heißt es, der Tunnelbau wäre an ständigen Wassereinbrüchen gescheitert", berichtet Jürgens. "Aber in Wahrheit war einfach nur das Geld alle."
Bau perfekt erhalten
Pickel lies die Eingänge sprengen und fluten, damit niemand in dem halbfertigen Stollen zu Schaden kommen würde. "Durch diese Maßnahmen ist der Bau perfekt erhalten", konnte Jürgens bei seinem Tauchgang nachweisen. "Da war nicht mal Müll vor dem Eingang - keine Flasche, keine Dose." Einen Blick in die einzigartige Zeitkapsel konnten die Archäologen aber nicht werfen. Die Forschungstaucher untersuchten lediglich die verschütteten Eingänge auf beiden Seiten.
Immerhin oberirdisch hat der Eisenbahnbau in der Egge Spuren hinterlassen. "Die Eingänge der Schächte sind als Mulden im Waldboden zu erkennen", so Wolpert. Und auch den Grundriss der alten Eisenbahnschenke mit einer Wächterstube und einer Schmiede konnten die Archäologen in einer Grabung freilegen: "Sie war allerdings nur klein, hier durften nur die Ingenieure und hohe Gäste essen." Die 500 bis 600 Arbeiter speisten und schliefen in weitaus weniger komfortablen Unterkünften. "Eine Mahlzeit im Gasthaus konnten sie sich nicht leisten - ihr Lohn reichte nicht einmal aus, um eine Familie zu ernähren."
Ära der Viadukte beginnt
Ein Jahr nach dem Ende des Tunnels war es dann auch mit der Cöln-Minden-Thüringer Verbindungs-Eisenbahn-Gesellschaft ganz vorbei - die Insolvenz war unabwendbar. Der Tunnel war da allerdings längst obsolet geworden, denn mittlerweile konnten die Lokomotiven auch größere Steigungen mühelos überwinden.
Zudem war der preußische König Friedrich Wilhelm IV. ein Architekturliebhaber, der die römischen Baumeister für ihre schwindelerregenden Viadukte bewunderte. So etwas wollte er auch in seinem Reich. Die Streckenführung wurde entsprechend den Wünschen des Herrschers geändert, statt unterirdischer Tunnel gab es nun weithin sichtbare Trassen über die Pässe.
Der Altenbekener Viadukt im Kreis Paderborn gilt noch heute als längste Kalksandsteinbrücke Europas. Auch wenn der Bau dadurch nicht billiger wurde: "Als die Strecke 1853 eröffnet wurde, hatte sie sechs Mal mehr preußische Taler verschlungen, als Pickels Plan gekostet hätte", rechnet Jürgens.