
Emissionsbudget Darum schweigt die Bundesregierung zur wichtigsten Zahl beim Klimaschutz


Kanzlerin Merkel: Mit welcher Begründung will die Bundesregierung weiterhin einen überproportionalen CO2-Ausstoß für sich beanspruchen?
Foto: Christoph Soeder/ dpaEs war der wohl peinlichste Moment in der Debatte der vergangenen Wochen über die deutsche Klimapolitik: Vor laufender Kamera wird die Umweltministerin gefragt, von welchem Emissionsbudget die Regierung bei ihren Planungen ausgeht. Erst versucht Svenja Schulze (SPD) der Frage auszuweichen, indem sie auf das Ziel verweist, 2050 treibhausgasneutral zu sein. Auf mehrfache Nachfragen (siehe Video im unten verlinkten Tweet) sagt sie schließlich: "Unter diesen ganzen Tonnen kann sich doch keiner was vorstellen!"
Wie viel #Treibhausgas darf Deutschland noch verbrauchen? Die #Bundesregierung schweigt. Kontraste hat die Zahl nun recherchiert. Und siehe da: Das #Klimapaket verfehlt die Klimaziele noch drastischer als bekannt! #allesfuersklima pic.twitter.com/BhuY77HeBk
— Kontraste (@ARDKontraste) September 30, 2019
Doch genau auf "diese ganzen Tonnen" kommt es an, wie in den Berichten des Weltklimarats IPCC nachzulesen ist: Das Ausmaß der globalen Erwärmung steigt proportional zur Gesamtmenge der CO2-Emissionen an. Wollen wir die Erderhitzung auf eine bestimmte Temperatur begrenzen, folgt daraus eine noch erlaubte Restmenge an CO2-Emissionen für die Menschheit: das Emissionsbudget. Die Zahlen kann jeder in einer Tabelle im IPCC-Bericht vom vergangenen Jahr nachschauen.

Stefan Rahmstorf schreibt regelmäßig für den SPIEGEL über die Klimakrise. Er ist Klima- und Meeresforscher und leitet die Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Seit dem Jahr 2000 ist er zudem Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Paläoklimaforschung, Veränderungen von Meeresströmungen und Meeresspiegel sowie Wetterextreme.
Auch die Forderungen von "Fridays for Future"- Deutschland beruhen auf diesen wissenschaftlich fundierten Zahlen. Wie viele unserer Regierungsmitglieder, unserer Abgeordneten kennen und verstehen sie? Wer von ihnen hat wenigstens die Zusammenfassung für Entscheidungsträger der letzten Berichte des IPCC gelesen? Die Schüler haben recht: Wer von der Regierung sich damit nicht ernsthaft auseinandersetzt, betreibt Arbeitsverweigerung.
Der Menschheit bleiben 580 Milliarden Tonnen CO2
Die der Tabelle zugrunde liegende Rechnung ist brutal einfach: Um etwa 1,5 Grad Erderwärmung nicht zu überschreiten (1,1 Grad haben wir bereits erreicht), kann die Menschheit seit Anfang 2018 noch 580 Milliarden Tonnen CO2 ausstoßen. Da wir inzwischen jährlich mehr als 40 Milliarden Tonnen davon in die Luft blasen, bleiben uns nur noch knapp 500 Gigatonnen. Damit könnten wir noch zwölf Jahre so weiterwirtschaften wie bislang - eher kürzer, weil die globalen Emissionen ja noch steigen.
Auch deshalb ist es so absurd, dass das Klimapaket der Bundesregierung zumindest in den nächsten sechs Jahren keine nennenswerte Wirkung haben wird (eine ausführliche Analyse, wie Wissenschaftler das Klimapaket bewerten, lesen Sie hier). Die Zeit, um "die Menschen mitzunehmen" und langsam auf die notwendigen Maßnahmen vorzubereiten, hat die Regierung viele Jahre lang gehabt - und verspielt. Jetzt ist sie weg.
Betrachten wir das harte, verbindliche Ziel des Pariser Abkommens: die Erwärmung deutlich unter zwei Grad zu stoppen (das deutlich wird gerne vergessen, war aber in Paris die Voraussetzung für die Zustimmung vieler Nationen zum Klimavertrag). Nehmen wir an, das bedeutet, mit 66 Prozent Wahrscheinlichkeit unter 1,75 Grad zu bleiben. Laut IPCC-Tabelle haben wir dann noch 800 Milliarden Tonnen seit Anfang 2018 zur Verfügung, also knapp 720 Milliarden Tonnen ab jetzt. Und das ist eine großzügige Annahme: Der IPCC weist darauf hin, dass dieses Budget sogar noch um rund 100 Milliarden Tonnen kleiner sein könnte.
Wie viel von diesem Restbudget jedes Land für sich beansprucht, ist ebenso wichtig wie ungeklärt. Im Pariser Abkommen findet man dazu nur ein Grundprinzip der gerechten Verteilung: die gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung. Allgemein wird das so verstanden, dass die Industrienationen den Gürtel noch enger schnallen müssen, weil sie den größten Anteil der bisherigen CO2-Emissionen verursacht haben.
Deutschland genehmigt sich besonders viel vom knappen Emissionsbudget
Von welchem Emissionsbudget geht die Bundesregierung also für Deutschland aus? Frau Schulze wollte es nicht verraten. Doch aus den deutschen Klimazielen lässt es sich leicht ableiten. Selbst wenn die Bundesregierung ihre Ziele für 2030 (55% unter 1990) und 2040 (70% unter 1990) konsequent einhält und Deutschland 2050 komplett klimaneutral wird, werden wir von Anfang 2019 bis zur Klimaneutralität insgesamt auf rund 13 Milliarden Tonnen CO2-Ausstoß kommen.
Konkret bedeutet dies, dass wir fast doppelt so viel des CO2-Budgets beanspruchen, wie unserem Anteil an der Weltbevölkerung (1,1%) entspricht. So sieht es auch mit unseren aktuellen Emissionen aus: die sind pro Kopf doppelt so hoch wie im Weltdurchschnitt.
Mit welcher Begründung will die Bundesregierung weiterhin diesen überproportionalen CO2-Ausstoß für sich beanspruchen? Kaum ein Schwellen- oder Entwicklungsland dürfte das für gerecht halten. Mit einer besonderen Verantwortung der Industriestaaten zur Lösung der Klimakrise, wie sie im Pariser Abkommen gemeint ist, hat dies jedenfalls wenig zu tun. Wohl weil sich das nicht begründen lässt, schweigt die Regierung lieber vornehm über das beanspruchte Emissionsbudget.
Dabei hat der Umweltrat SRU - ein offizielle Beratergremium der Bundesregierung - erst kürzlich in einem offenen Brief das Klimakabinett darauf hingewiesen, wie ein gerechtes Emissionsbudget für Deutschland aussehen würde: 7,3 Milliarden Tonnen ab Anfang 2019 (6,6 ab Anfang 2020), wie in der folgenden Grafik gezeigt. Das zweite relevante Beratergremium der Bundesregierung, der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU), hat bereits vor einem Jahrzehnt ein Gutachten zu den Emissionsbudgets vorgelegt (dessen Mitautor ich war).

Mit dem Pariser Abkommen vereinbartes Emissionsbudget für Deutschland wie vom Umweltrat empfohlen (rot, ab 2019) im Vergleich zu den Klimazielen der Bundesregierung. Folgt die Bundesregierung dem Umweltrat, müsste die Bundesregierung jährlich 40 Millionen Tonnen CO2 einsparen - eine fünfmal so schnelle Minderung wie in den vergangenen dreißig Jahren. Diese Zahlen beziehen sich nur auf CO2, das 88 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen ausmacht, andere Klimagase sind hier nicht berücksichtigt.
Auch die "Scientists for Future" - ein Zusammenschluss zahlreicher Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz - haben vom Klimakabinett Transparenz darüber gefordert , von welchem globalen Emissionsbudget die Regierung ausgeht und welchen Anteil Deutschland davon für sich beansprucht.
Einige Länder, wie Dänemark und Großbritannien, sind beim Klimaschutz schon weiter, viele andere noch weniger auf Kurs als Deutschland. Deutschland alleine kann natürlich das Klima nicht stabilisieren, um uns so vor zunehmenden Überflutungen unserer Städte, tödlichen Hitzewellen, verheerenden Dürren, dem Austrocknen und Abbrennen unserer Wälder und der Erosion unserer Küsten zu bewahren.
Deshalb ist das Pariser Abkommen so wichtig zum Schutz der Menschen in unserem Land. Dieses Abkommen zu untergraben, indem wir es trotz aller Lippenbekenntnisse stillschweigend nicht einhalten, wäre fatal.
Also, machen wir uns ehrlich und diskutieren endlich ernsthaft über "diese ganzen Tonnen", unter denen sich keiner etwas vorstellen kann. Denn genau von denen hängt die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder über viele Generationen ab.