Erbgut In zwei Jahren zum Neandertaler-Genom
Der Knochen ist dunkelbraun, fast schwarz und glänzt. Ralf Schmitz reicht ihn dem Mann zu seiner Linken, zögert einen Moment. Als der Paläogenetiker Svante Pääbo nach dem Oberarmknochen greift, halten die beiden Männer das rund 30 Zentimeter lange Stück einen Moment lang wie einen Staffelstab in der Hand - oder eine Trophäe. "Wir werden ihn nicht ganz zermahlen", sagt Pääbo. Schmitz lässt los und schiebt nach: "Bitte nur eine kleine Probe!"
Lange hält Schmitz es nicht aus ohne den Knochen, obwohl es nur ein Abguss des historischen Fossils ist. Während Pääbo im Leipziger Max-Planck-Institut über die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms referiert, erhebt sich der Urgeschichtler von der Universität Tübingen und nimmt sich den Knochen zurück, der neben Michael Egholm auf dem Tisch zu liegen gekommen war. Egholm vertritt die US-amerikanische Firma 454 Life Sciences Corporation.
Die drei Forscher stehen für ein Projekt an der Schnittstelle mehrerer Wissenschaften - Urgeschichte, evolutionäre Anthropologie und Genetik. Zusammen wollen dem berühmtesten Rheinländer sein Geheimnis entlocken: Das Erbgut des Neandertalers soll vollständig entziffert werden. In zwei Jahren soll der erste Entwurf veröffentlicht und Forschern weltweit zugänglich gemacht werden.
Vorläufige Analysen des Erbmaterials eines besonders gut erhaltenen Neandertaler-Fossils aus Kroatien hatten die Forscher ermutigt. Für die Hauptphase des Projekts stellt nun das Rheinische Landesmuseum in Bonn auch eine Probe des Original-Neandertalers zur Verfügung, der beinahe auf den Tag genau vor 150 Jahren von Arbeitern in der Nähe von Düsseldorf entdeckt wurde. Die Probe soll aus dem rechten Oberarmknochen gewonnen werden.
Uralter Armbruch hilft
Der habe sich als "idealer Safe" für das Erbgut des ausgestorbenen Hominiden erwiesen, sagte Schmitz. Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass der Neandertaler aus dem Rheinland sich seinen linken Arm gebrochen hatte. Folglich verrichtete er alle schweren Arbeiten mit Rechts. "Daher ist hier das Knochenmaterial besonders dicht", sagte Schmitz.
Dichtes Material benötigen die Forscher für ihr Vorhaben, aus den zehntausende Jahre alten Gebeinen noch genug DNA-Schnipsel für ein vollständiges Genom des Menschen-Vettern zu isolieren. Denn DNA zerfällt nach dem Tod zu kleinen Schnipseln - und bei alten Knochen finden Forscher mehr Erbgut von Bodenbakterien oder gar den Ausgräbern als vom toten Besitzer der Knochen selbst.
Die Forscher erhoffen sich von der Erbgut-Analyse vor allem Aufklärung über die Verwandtschaft von Mensch und Neandertaler. Ältere DNA-Vergleiche hätten gezeigt, dass die in Europa und Teilen Asiens verbreiteten Neandertaler wohl keinen entscheidenden Beitrag zur genetischen Entwicklung des Menschen geleistet haben, sagte Pääbo.
Er machte folgende Rechnung auf: Bei Homo sapiens und Schimpanse sind rund 99 Prozent des Genoms identisch. Beim verbleibenden Prozent wiederum gebe es zwischen Mensch und Neandertaler eine Übereinstimmung von 96 Prozent. Finde man Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse, seien sie früher in der Entwicklung aufgetreten, Unterschiede zwischen Mensch und Neandertaler seien evolutionär jünger, sagte Pääbo.
Wenige Gramm Knochen sollen genügen
Möglich wird die Untersuchung durch eine von 454 Life Sciences entwickelte neue Technik, die mit einem Bruchteil der bisher nötigen Probenmenge auskommt. "Ein paar Gramm Knochen" werde man insgesamt brauchen, kündigte Pääbo an. Wenigstens von zwei unterschiedlichen Fossilien sollten sie stammen, möglicherweise auch von mehreren. "Wir entfernen die oberste Schicht von einem halben Millimeter", sagte Pääbo, "dann nehmen wir einen Zahnarzt-Bohrer."
Um das rund drei Milliarden Basenpaare fassende Neandertaler-Erbgut zu erhalten, müssten viele identische oder überlappende Schnipsel sequenziert werden. "Wir werden kein vollständiges Genom zusammensetzen", sagte Pääbo. Die einzelnen Sequenzen dienten dem Vergleich mit den entsprechenden Menschen- und Schimpansen-Sequenzen. Der schwedischstämmige Paläogenetiker aus Leipzig betonte auch: "Einen Neandertaler rekonstruieren werden wir aber nicht."
Fachleute bezweifeln zudem, dass dieser - ethisch fragwürdige - Schritt je technisch möglich sein wird. "Eine Sequenzierung wird nie gut genug sein, um das gesamte Genom abzudecken", sagte der Molekulargenetiker Hans Lehrach aus Berlin zu SPIEGEL ONLINE. "Es ist extrem unwahrscheinlich, dass man daraus jemals einen Organismus kriegt." Viren könne man zwar komplett neu synthetisieren, "aber das sind tausende Basen und nicht Abermilliarden."
Mit Material von ddp/dpa