Erste Bilanz aus England H1N1-Virus ist viel harmloser als Spanische Grippe

Neue Zahlen aus England zeigen: Nur 0,026 Prozent der H1N1-Infektionen verlaufen tödlich, viel weniger als bei der Spanischen Grippe. War die Hysterie um die Schweinegrippe also nur Panikmache? Wissenschaftler verteidigen die Impfung weiterhin, denn das Virus kann sich immer noch verändern.
Von Cinthia Briseño
H1N1: Alles nur Klamauk?

H1N1: Alles nur Klamauk?

Foto: ANDY NEWMAN/ AFP

Schweinegrippe

Eine neue Studie könnte wieder einmal die Frage aufwerfen: Macht eine Impfung gegen H1N1 überhaupt Sinn? Britische Mediziner haben die Sterberate bei in England erfasst und kommen zu dem Ergebnis: Nur 26 von 100.000 H1N1-Infektionen führen zum Tod, das entspricht 0,026 Prozent.

Demnach verläuft die erste Influenza-Pandemie des 21. Jahrhunderts weitaus weniger tödlich als befürchtet - und die vorhergesagte Katastrophe ist bisher ausgeblieben. Die Reaktionen auf die länderübergreifende Infektionskrankheit in den letzten Monaten schwankte zwischen Extremen: Zwischen denjenigen, die es kaum erwarten konnten, sich mit einer Impfung vor dem gefährlichen Erreger zu schützen. Denjenigen, die den Ausbruch der Schweinegrippe total verharmlosten. Und denjenigen, die angesichts der Massenimpfkampagne hinter der ganzen Hysterie um die Schweinegrippe einen Riesencoup der Pharmaindustrie ausmachten.

Die Wahrheit über die H1N1-Welle wird irgendwo dazwischen liegen. Und die Studie, die ein Forscherteam um Liam Donaldson vom britischen Gesundheitsministerium jetzt im Fachmagazin "British Medical Journal"  veröffentlicht hat, liefert neue Fakten und Erkenntnisse, die helfen, die Gefährlichkeit der Schweinegrippe einzuordnen.

Kinder am wenigsten gefährdet

In England war die Sterberate unter Kindern im Alter von vier bis 15 Jahren am geringsten: 11 von 100.000 erlagen dem Virus, das sind 0,011 Prozent. Allerdings steckten sie sich auch am häufigsten an. Ganz anders sah es in der Gruppe der über 65-Jährigen aus: Weitaus weniger ältere Menschen wurden mit H1N1 infiziert, dafür verliefen 980 von 100.000 Infektionen in dieser Gruppe tödlich. Das macht einen Anteil von knapp einem Prozent aus.

Zum Vergleich: An der Spanischen Grippe, der Pandemie, die zwischen 1918 und 1920 von einem Abkömmling des H1N1-Virus verursacht wurde, starben weltweit mehr als 20 Millionen Menschen. Experten errechneten eine Sterberate von zwei bis drei Prozent. Bei anderen schweren Influenzapandemien wie etwa im Winter 1967/68 lag sie dagegen bei nur 0,2 Prozent. Die Sterberate der aktuellen H1N1-Influenza in England ist demzufolge nur etwa ein Hundertstel so groß wie die der Spanischen Grippe.

Fakt ist auch, dass die H1N1-Influenza harmloser verläuft als die gewöhnliche saisonale Grippe. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gibt für Deutschland bisher 192.348 gemeldete Fälle von Schweinegrippe an (Stand 8.12.2009), die Dunkelziffer liegt aber wohl viel höher, da die Ärzte seit einiger Zeit die Fälle nicht mehr melden müssen. An Schweinegrippe gestorben sind laut RKI seit Ausbruch der Infektionskrankheit 94 Menschen. Die normale saisonale Influenza fordert dagegen allein in Deutschland jährlich zwischen 10.000 und 30.000 Todesopfer.

Viel Lärm um nichts?

Angesichts der Zahlen könnte man sich fragen: Sehr viel Lärm um nichts? Ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mal wieder zu voreilig vorgegangen? Noch ist völlig unklar, inwieweit die Massenimpfungen dazu beigetragen haben könnten, die Verbreitung des Erregers und damit die Zahl der Todesfälle zu unterbinden. Und nicht nur das. Je weniger Wirte das H1N1-Virus befällt, desto weniger Chancen bestehen, dass es zu einer weitaus gefährlichen Variante mutiert.

Dem Thema Schweinegrippe jedenfalls konnte in den vergangenen Wochen und Monaten kaum einer entgehen. Allerdings hatten und haben die Debatten um die Nebenwirkungen einer Impfung sowie deren Wirkverstärker ihre Berechtigung. Und es ist in jedem Fall angebracht, den tatsächlichen Nutzen einer Impfung im Einzelfall abzuwägen. Die deutsche Bevölkerung ist bei dieser Impfkampagne offensichtlich zu einer eigenen Schlussfolgerung gekommen: Lediglich fünf Prozent haben sich bisher gegen den H1N1-Erreger impfen lassen.

Die Ergebnisse der britischen Studie sind für Gérard Krause, Leiter der Abteilung für Epidemiologie am RKI, keine Überraschung. Sie deckten sich weitestgehend mit den Daten aus Deutschland, sagt er. Allerdings sei es "zu früh, um eine abschließende Bilanz zu ziehen".

Sicherheitshalber den ganzen Löschzug

Es sei auch noch nicht möglich, einen vernünftigen Vergleich der epidemiologischen Gesamtbelastung in England und der Situation in Deutschland zu ziehen, so Krause. "In England ist bereits die zweite Welle mit inländischer Ausbreitung seit einer Weile rückläufig, wir hingegen haben gerade den Scheitelpunkt einer ersten Welle mit einheimischer Übertragung erreicht", erklärt Krause. Wie sich die Krankheit weiterhin entwickeln werde, könne man noch nicht abschätzen.

In jedem Fall sei es richtig gewesen, derartige Vorsorgemaßnahmen zu treffen, wie es in der Bundesrepublik der Fall war, so Krause. "Wenn es um ein brennendes Gebäude geht, dann fährt man vorsorglich auch mit einem ganzen Löschzug hin und nicht bloß mit einem kleinen Wagen." Er erkenne im Nachhinein nichts, was man in Sachen Vorsorge hätte auslassen sollen. "Wir sind aber froh, dass die Situation doch nicht so schlimm ist, wie wir befürchtet hatten." "Ansonsten hätten wir ein echtes Problem."

Auch die Autoren der britischen Studie jedenfalls sehen die Impfkampagne als gerechtfertigt an. Donaldson, der Chief Medical Officer Englands, betont, es sei vor allem wichtig, etwa chronisch Kranke oder Senioren zu impfen. Der Auswertung zufolge gehörten zwei Drittel der Todesopfer zu Risikogruppen, denen eine Impfung gegen H1N1 angeraten wird.

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