Fotostrecke

Ethik: Die antastbare Menschenwürde

Foto: dpa/dpaweb

Ethik-Debatte Die Würde des Menschen ist antastbar

In fast allen bioethischen Debatten wird auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde verwiesen. Ein genauerer Blick zeigt, dass der Begriff viel zu beliebig verwendet werden kann. Am besten sollte man sich überhaupt nicht auf ihn berufen, argumentiert Edgar Dahl.

Ob das Klonen von Lebewesen, die Erzeugung genetischer Chimären oder neuerdings gar das so genannte Neurodoping (die Verstärkung von Hirnleistungen per Pille) - nahezu alle neuen biomedizinischen Technologien werden zumeist mit dem Hinweis auf die "Menschenwürde" abgelehnt. Der Appell an die vermeintlich unantastbare Würde des Menschen ist inzwischen so inflationär geworden, dass es höchste Zeit wird, ihn etwas genauer zu betrachten.

Wohl nirgends sieht man die Notwendigkeit einer solchen Analyse deutlicher als in der Debatte um die Sterbehilfe. Denn hier berufen sich bekanntlich sowohl Verächter als auch Verfechter gern auf die Menschenwürde. Für die einen verbietet es die Würde des Menschen, dass man das Leben eines unter schrecklichen Qualen leidenden Patienten auf dessen Wunsch hin einfach beendet. Für die anderen dagegen gebietet sie es, dass man den selbstbestimmten Wunsch eines Sterbenden gefälligst zu respektieren habe.

Angesichts der Beliebigkeit, mit der man die Idee der Menschenwürde also verwenden kann, wird er denn auch immer häufiger als eine bloße Leerformel abgetan. So hat etwa Wolfgang Wickler kürzlich die Frage "Was ist Würde?" bissig beantwortet: "Würde ist ein Konjunktiv!"

Spätestens seit der Veröffentlichung von Charles Darwins "Die Entstehung der Arten" hat diese Begründung der Menschenwürde erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Möglicherweise hilft ja ein kurzer Blick in die Geschichte, um zu entscheiden, ob die Verwendung des Begriffs Menschenwürde in der heutigen Zeit noch sinnvoll ist. Obgleich das Konzept bereits den Griechen und Römern bekannt war, war es in erster Linie das Christentum, das der Menschenwürde eine so zentrale Bedeutung einräumte. Nach christlicher Vorstellung beruht die Würde des Menschen auf seiner Rolle als "Ebenbild Gottes": Im Unterschied zu allen anderen Wesen habe der Schöpfer nur ihn nach seinem Bild geformt.

Spätestens seit der Veröffentlichung von Charles Darwins "Die Entstehung der Arten" hat diese Begründung der Menschenwürde erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Doch auch ohne religionskritische Argumente zu bemühen, dürfte es offenkundig sein, dass eine explizit christliche Begründung der Menschenwürde für eine säkulare und pluralistische Gesellschaft wie der unseren denkbar ungeeignet ist.

Bereits der deutsche Idealismus hatte daher versucht, die Menschenwürde ohne Rückgriff auf eine Religion zu begründen. Statt der christlichen Gottesebenbildlichkeit rückte er die so genannte Vernunftnatur des Menschen in den Blick. So heißt es beispielsweise bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831): "Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten; von der Größe und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken."

Hegels Zeitgenosse Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814) zeigte sich ähnlich betört vom Mirakel der menschlichen Vernunft und stellte die rhetorische Frage: "Sollte der Mensch nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen, und schaudern und erbeben vor seiner eigenen Majestät?" Wir müssen den Menschen mit Michel de Montaigne (1533 - 1592) nicht unbedingt als "das unglückseligste und gebrechlichste aller Geschöpfe" betrachten, um ihm darin Recht zu geben, dass "die Anmaßung unsere natürliche Erbkrankheit" ist. Es sei, wie der Politiker und Philosoph in seinen "Essais" notiert, offenbar wohl in der Tat ein Ausdruck "des Hochmuts des Menschen, dass er sich dem Schöpfer gleichstellt, sich göttliche Eigenschaften beimisst und sich vom großen Haufen der übrigen Kreatur auserlesen dünkt".

Der bedeutendste und einflussreichste Advokat der Menschenwürde war zweifellos Immanuel Kant.

Anders als der deutsche Idealismus betrachtet der moderne Naturalismus den Menschen denn auch als ein bloßes Tier unter Tieren, dessen geistige Fähigkeiten sich von denen anderer Lebewesen nicht prinzipiell, sondern höchstens graduell unterscheiden. Statt der Unvergleichlichkeit der Vernunft ist es heute eher die Fehlbarkeit der Vernunft, die ins Auge sticht. Sicher ist es eine bemerkenswerte Fähigkeit, zu wissen, dass wir nichts wissen. Doch ließe sich daraus kaum die vermeintlich unantastbare Würde aller Menschen ableiten.

Der bedeutendste und einflussreichste Advokat der Menschenwürde war zweifellos Immanuel Kant (1724 - 1804). Nach Ansicht des Königsberger Philosophen beruht die Würde des Menschen auf dessen "sittlicher Autonomie". Anders als alle anderen Lebewesen vermag sich der Mensch nämlich über seine natürlichen Triebe zu erheben und von moralischen Normen leiten zu lassen. Diese Fähigkeit zum "Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz" mache den Menschen zum "Gegenstand höchster Bewunderung, die ihn gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen" lasse.

Da Adel bekanntermaßen verpflichtet, nötigt uns die Menschenwürde nicht nur Respekt vor anderen, sondern auch vor uns selbst ab. Sie erlegt dem Menschen laut Kant die Pflicht auf, die Würde, "die ihn vor allen Geschöpfen auszeichnet, auch in seiner eigenen Person niemals zu beleidigen". Hierzu gehöre, dass wir niemals vor unseren Mitmenschen kriechen sollen. "Wer sich zum Wurme mache, darf nicht darüber klagen, mit Füßen getreten zu werden."

Leerheit des Klangs

Wer sich von Kants Begriff der Menschenwürde ein auch heute noch gültiges Kriterium für Moral und Recht erhofft, wird sich aber bald enttäuscht sehen. Denn nach seiner Auffassung ist beispielsweise die Todesstrafe durchaus mit der Menschenwürde vereinbar; die Selbsttötung dagegen sei der Menschenwürde zuwider. Insbesondere die Homosexualität ist nach Kant ein verabscheuungswürdiges Verbrechen, "da sie die Menschheit unter die Tierheit" erniedrige und "den Menschen der Menschheit unwürdig" mache.

Aber bereits Kants Schüler Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) ist sauer aufgestoßen, dass man mit diesem Begriff der Menschenwürde allerlei Schindluder treiben und nahezu jedes beliebige Verhalten ächten kann. Nicht zu Unrecht beklagte der Danziger sich über die Leerheit des Ausdrucks "Würde des Menschen", der durch seinen "erhabenen Klang" dermaßen imponiere, dass "nicht leicht einer sich untersteht, heranzutreten, um ihn in der Nähe zu untersuchen, wo er dann finden würde, dass er nur eine bloße Hyperbel " sei.

Entsprechend Kants zweiter Formulierung des kategorischen Imperativs versucht man die Menschenwürde denn auch konkreter zu fassen. Danach legt uns die Würde des Menschen folgendes Gebot auf: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." Mit anderen Worten: Wir dürfen einen Menschen niemals als bloßes Mittel zu unserem Zweck gebrauchen.

Um diese umständliche Formulierung zu umgehen, spricht man heute lieber einfach von dem Verbot der Instrumentalisierung. Wenn ich einen Taxifahrer als Mittel zum Zweck meiner Beförderung gebrauche, instrumentalisiere ich ihn nicht, sofern er in die Fahrt einwilligt und ich ihn entsprechend entlohne. Wenn ich ihn dagegen unter Androhung von Gewalt und ohne jede Bezahlung zu einer Fahrt zwinge, habe ich ihn instrumentalisiert.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar"

So einleuchtend der Gedanke auch erscheinen mag, eine Verletzung der menschlichen Würde mit der Instrumentalisierung eines Menschen gleichzusetzen, so führt er jedoch nicht weit. Nach allgemeiner Auffassung hat das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde absolute Geltung. Das heißt, eine Verletzung der Menschenwürde darf niemals und unter keinen Umständen geduldet werden. Wie der Mainzer Rechtsphilosoph Norbert Hoerster gezeigt hat, gibt es nun aber Instrumentalisierungen und Instrumentalisierungen. Neben dem Mann, der eine Frau vergewaltigt, um seine Lust zu befriedigen, gibt es beispielsweise auch die Frau, die mit einem Mann flirtet, um ihren Partner eifersüchtig zu machen. Müssen wir beide Handlungen nun gleichermaßen verurteilen, nur weil beide Handlungen gleichermaßen einen Menschen instrumentalisieren? Sicher nicht!

Dass durch einen solchen Hinweis wenig gewonnen ist, wird spätestens dann klar, wenn wir Handlungen wie Mord oder Totschlag mit Handlungen wie Folter oder Geiselnahme vergleichen. Letztere enthalten offensichtlich eine Instrumentalisierung ihrer Opfer, erstere dagegen nicht. Für die Beurteilung ist dies jedoch ohne jeden Belang. Alle vier Handlungen stellen Verbrechen dar, für die unser Gesetzbuch einen eigenen Straftatbestand enthält. Und die Strafwürdigkeit aller vier Handlungen besteht einzig und allein darin, dass sie alle eine Verletzung unserer moralisch und juristisch geschützten Rechte darstellen.

Dies bringt mich zu meinem Hauptargument. Offenbar können wir jede Verletzung der Menschenwürde genauso gut, ja sogar noch weit besser, als eine Verletzung eines Menschenrechts beschreiben. Wenn dem so ist, dann wird aber der Verweis auf die Würde des Menschen nicht nur inhaltsleer, sondern geradezu überflüssig. Wozu sollen wir beispielsweise eine Geiselnahme als Würdeverletzung bezeichnen, wenn wir sie viel präziser als eine Beeinträchtigung des Rechts auf persönliche Freiheit fassen können? Und warum sollen wir eine Vergewaltigung als Würdeverletzung bezeichnen, wenn wir sie viel konkreter als eine Beschädigung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit brandmarken können? Kurzum: Solange sich keine Verletzung der Menschenwürde findet, die nicht zugleich auch einen Verstoß gegen ein Menschenrecht darstellt, ist der Begriff der Menschenwürde schlicht und einfach redundant.

Gegner mundtot machen

Natürlich will ich mit alldem nicht sagen, dass wir den Begriff der Würde ein für alle Mal aus unserem Vokabular streichen sollten. Noch viel weniger will ich behaupten, dass wir ihn aus unserer Verfassung eliminieren müssen. Wie wir alle wissen, ist der Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" als Reaktion auf die unvergleichlichen Gräueltaten des Nationalsozialismus in unser Grundgesetz aufgenommen worden, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass Menschen mit ihresgleichen nicht nach Belieben umgehen dürfen. Und hier erweist sich der Appell an die Würde des Menschen auch als das, was er in Wirklichkeit ist, nämlich eine bloße Deklaration.

In der bioethischen Diskussion, und darum geht es mir hier, hat der Begriff der Menschenwürde jedoch nichts verloren. Hier dient er fast ausnahmslos als ideologische Waffe, mit der man seine Gegner mundtot machen will. In Ermangelung eines Arguments zieht man das Schlagwort der Menschenwürde aus dem Ärmel, um die Diskussion zu beenden. Wer will schließlich auch weiterdiskutieren, sobald eine biomedizinische Technologie einmal als eine grobe Verletzung der Menschenwürde entlarvt worden ist?

Um zu verdeutlichen, dass uns der Rekurs auf die Menschenwürde keinen Schritt weiterbringt, möchte ich auf die eingangs erwähnten Technologien des Neurodopings sowie der Chimärenbildung zurückkommen. Unter Enhancement versteht man generell die Verbesserung menschlicher Fähigkeiten. Mit Hilfe des so genannten Neuro-Enhancements mögen wir vielleicht eines Tages unsere kognitiven und emotionalen Fähigkeiten verbessern. So genannte Smart Pills könnten unsere Konzentrationsfähigkeit und unser Erinnerungsvermögen erhöhen; Happy Pills könnten Befinden und Antrieb steigern.

Unter Chimären versteht man Lebewesen, die Zellen verschiedener Spezies enthalten.

Sofern solche Präparate sicher, zuverlässig und nebenwirkungsarm wären, spräche eigentlich nichts gegen ihre Einnahme. Dennoch sehen Bedenkenträger auch hier wieder die Würde des Menschen in Gefahr. Doch inwieweit verletzt jemand, der seine Stimmung mit einer Glückspille aufhellt, seine Würde? Nicht einmal Kant würde etwas dagegen einzuwenden haben. Seiner Meinung nach ist es gerade die Menschenwürde, die es uns verbietet, ihm vorzuschreiben, wie er sein Leben zu leben hat: "Niemand kann mich zwingen auf seine Art glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer nicht Abbruch tut."

Unter Chimären versteht man Lebewesen, die Zellen verschiedener Spezies enthalten. Wenn wir einem menschlichen Embryo tierische Zellen hinzufügen, würde er also zu einer Chimäre heranwachsen. Wie nicht anders zu erwarten, ist selbstverständlich auch die Bildung von Chimären als ein Angriff auf die Würde des Menschen diffamiert worden. Doch wer so spricht, weiß in aller Regel gar nicht, wozu diese Art von Forschung überhaupt betrieben wird. Es geht nicht darum, irgendwelche Monster zu schaffen, sondern uns von einigen Geißeln der Menschheit zu befreien.

Ein Beispiel: Wie weithin bekannt, gibt es eine Vielzahl von Tieren, die gegenüber dem HI-Virus resistent sind. Sollte diese Immunität auf einem speziellen Gen beruhen, ist es denkbar, dieses Gen zu isolieren und in das Genom der Menschen einzuschleusen. Auf diese Weise würden unsere Kinder und Kindeskinder schon bald vor Aids gefeit sein. Ähnliches versucht man mit Genen, die uns vor bestimmten Arten von Krebs bewahren sollen.

Was also könnte dagegen sprechen, künftige Generationen vor Aids und Krebs zu schützen? Wie beim Enhancement, so kommt es auch bei der Bildung von Chimären auf das Risiko an, das mit diesem Eingriff verbunden ist. Sofern die Eingriffe sicher sind, spricht nichts, aber auch gar nichts dagegen. Wer sich dennoch vor Chimären ekelt, sei daran erinnert, dass wir streng genommen alle Chimären sind. Denn jeder von uns enthält tierische Zellen in seinen Gedärmen, nämlich Bakterien. Hat sich deswegen jemals einer in seiner Würde verletzt gefühlt?

Lasst uns also die Konsequenzen ziehen und den Einwand der Verletzung der Menschenwürde ein für alle Mal aus der bioethischen Diskussion verbannen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren