Christian Stöcker

EU-Klimapolitik Unsere einzige Chance

Sollte Ursula von der Leyen EU-Kommissionspräsidentin werden, ist dies ihre wichtigste Aufgabe: Europa zum Anführer bei der Rettung der menschlichen Lebenssphäre zu machen. Zwei Faktoren sprechen für sie.
Mai 2019: Schulkinder im indischen Jammu auf dem Weg nach Hause. Viele Regionen des Landes sind von einer extremen Hitzewelle betroffen.

Mai 2019: Schulkinder im indischen Jammu auf dem Weg nach Hause. Viele Regionen des Landes sind von einer extremen Hitzewelle betroffen.

Foto: Channi Anand/ AP

Aus meiner Sicht sprechen für Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin zwei Dinge: Erstens ist sie überzeugte Europäerin - und zweitens hat sie sieben Kinder. Sie freut sich auch schon auf Enkel .

Wenn Sie das für eine sexistische Bemerkung halten, haben Sie mich missverstanden. Es ist einfach so: Das Gefühl der Verantwortung für die eigenen Nachkommen schlägt im Zweifel - von furchtbaren Ausnahmen abgesehen - die meisten anderen Antriebe menschlichen Handelns.

Die Kindermund-Frage, ob das jetzt schon der Klimawandel sei

Meiner Wahrnehmung nach wird Leuten mit Kindern und Enkelkindern im Moment besonders intensiv klargemacht, was gerade auf dem Spiel steht, im Zweifel beim Sonntagsbraten: die Zukunft der gesamten Menschheit nämlich, und damit auch die aller Kinder und Enkelkinder. Wie viele Eltern in diesem heißen Sommer wohl verlegen werden bei der Kindermund-Frage, ob das jetzt schon der Klimawandel sei?

Das jüngste Kind von Ursula von der Leyen wurde 1999 geboren. Es hat gute Chancen, das Jahr 2100 persönlich mitzuerleben. Der Meeresspiegel wird dann, je nach Prognose  und bis dahin ergriffenen Maßnahmen, 26 Zentimeter über dem heutigen liegen - oder mehr als zwei Meter. Im letzteren Fall würden der verlinkten Studie zufolge 1,79 Millionen Quadratkilometer Land verlorengehen, "einschließlich solcher Regionen, die für die Nahrungsmittelproduktion kritisch sind". Allein dadurch hätten 187 Millionen Menschen ihre Heimat verloren.

In Indien schmilzt der Asphalt

Eine womöglich noch größere Zahl von Menschen könnte sich zu diesem Zeitpunkt längst auf Wanderschaft begeben haben. Weil es an ihrem Wohnort regelmäßig zu Phasen für Menschen unerträglicher Hitze kommt, auf ihren Feldern angesichts langer Dürreperioden nichts mehr wächst oder die wetterbedingten Großkatastrophen nicht mehr auszuhalten sind. Man kann sich im Moment aktuelle Beispiele für das, was bevorsteht, live ansehen, etwa in Indien: Dort ist es in einigen Regionen seit Monaten so heiß , dass der Asphalt schmilzt und Schlägereien um Trinkwasserlieferungen ausbrechen.

Jedes Mal, wenn man von solchen Projektionen spricht, wirft irgendjemand ein, dass es ja so schlimm nicht kommen müsse, das seien ja alles nur Modellrechnungen. Im Moment aber scheinen schon die Modellrechnungen, mit denen etwa der letzte Bericht des Weltklimarates (IPCC)  operiert, teils übertrieben optimistisch.

Gleich drei Kippelemente recken die Häupter

In Kanada taut der Permafrostboden viel schneller auf als prognostiziert . Erstens ist das ein weiteres Signal, dass die Erderwärmung schneller voranschreitet als erwartet, und zweitens wird der aufgetaute Boden Methan und CO2 freisetzen. Das gilt als eines der Elemente, die zu einem plötzlichen qualitativen Umkippen des Weltklimas in einen neuen, dauerhaft heißeren Zustand führen können. Im Moment taut der Boden in der kanadischen Arktis der verlinkten Studie zufolge in einem Tempo auf, das eigentlich erst in 70 Jahren erwartet worden war. Schneller taut es nicht nur in Kanada, sondern auch in arktischen Regionen .

Ein weiteres dieser Kippelemente  ist das Abschmelzen des arktischen Eises, und auch das verläuft derzeit viel schneller als erwartet . Eisfreie Böden und Wasserflächen reflektieren weniger Sonnenlicht als weiße Flächen, und so trägt auch diese Entwicklung zu einer Beschleunigung der Erwärmung bei.

Zweimal München pro Monat

Ein weiteres Kippelement ist der Verlust von Waldflächen im Amazonasgebiet. In Brasilien wird derweil der Regenwald unter dem rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro wieder schneller abgeholzt als seit zehn Jahren. Allein im Mai verschwanden Satellitendaten zufolge 739 Quadratkilometer Amazonasdschungel. Das ist mehr als die doppelte Fläche Münchens.

Mit anderen Worten: Im Moment sehen die an sich schon apokalyptisch klingenden Klimaprojektionen aus wie höfliche Untertreibungen. Gleichzeitig, das zeigte eine diese Woche erschienene Studie , investiert die Menschheit weiterhin kräftig in die Herbeiführung der Katastrophe. Selbst, wenn nur die schon in Betrieb genommenen und noch geplanten CO2-Kraftwerke so lange laufen, wie das normalerweise der Fall ist, würden sie allein mehr CO2 ausstoßen, als wir uns erlauben können, wenn das 1,5-Grad-Ziel eingehalten werden soll. Den mit Abstand größten Anteil daran hat China, das immer noch neue Kohlekraftwerke plant.

Trump muss weg, China muss ins Boot, die EU muss führen

Im Moment ist die Europäische Union die größte Hoffnung, die die Menschheit der Gegenwart und Zukunft hat, als politischer Antreiber und als Vorbild. Nur von hier kann das radikale, menschheitsgeschichtlich einmalige Umdenken und -lenken ausgehen, das uns alle vor dem Schlimmsten bewahren kann. Nur eine starke, einige, entschlossene Europäische Union kann die Machtblöcke der Gegenwart, vor allem die USA - unter einem hoffentlich bald anderen Präsidenten - und China dazu an einen Tisch bringen. Das ist eine schwere Aufgabe, aber unsere einzige Chance.

Ursula von der Leyen hat schon öfter betont, dass sie von den Vereinigten Staaten von Europa träumt. Viele Europäer merken gerade, dass uns allen die Zeit davonläuft. Die nächste EU-Legislaturperiode und die nächste in den USA könnten den Ausschlag geben bei der Frage, ob der Menschheit die Selbstrettung gelingt oder nicht.

Sollte Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin werden, ist diese internationale Anstrengung ihre wichtigste Aufgabe. Hoffen wir, dass ihre Kinder sie davon überzeugen können.

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