
Evolution Warum der Mensch aufrecht geht
Sie gehen gerne ins Schwimmbad und lieben das Meer? Sie essen gerne Fisch und Meeresfrüchte? Wenn Sie diese Fragen mit Ja beantworten, gehören Sie zur Mehrheit - denn Fisch stellt in vielen Ländern die wichtigste Eiweißquelle dar, und in Umfragen bestätigen Menschen immer wieder, dass es sie ans Meer oder Seeufer zieht.
Der Berliner Evolutionsbiologe Carsten Niemitz vermutet, dass die heutigen Menschen diese Vorlieben von frühen Vorfahren geerbt haben. Seine These: Menschen haben im Wasser gelernt, auf zwei Beinen zu gehen - nicht in der Savanne und auch nicht auf Dschungelbäumen. Einige Forscher sehen Niemitz' Theorie als plausible Erklärung für einen der rätselhaftesten Schritte menschlicher Evolution - doch viele Kollegen betrachten die Ufertheorie kritisch.
"Die Frage ist nicht: Warum haben wir uns aufgerichtet? Die Frage ist: Warum sind wir stehengeblieben und haben angefangen zu gehen?", erklärt Carsten Niemitz. Er geht wie viele andere Anthropologen davon aus, dass es für ein Landlebewesen im Prinzip keinen vernünftigen Grund gibt, aufrecht zu gehen - im Gegenteil. Vierbeiner bewegen sich schneller und sicherer voran. Ganz zu schweigen von all den körperlichen Gebrechen, die der aufrechte Gang den Menschen beschert hat: Krampfadern, Bandscheibenleiden und Knorpelschäden im Knie sind der Preis, den fast jeder Mensch irgendwann für die extravagante Fortbewegungsart bezahlen muss. Es muss also einen triftigen Grund gegeben haben, warum unsere Vorfahren so viele Nachteile in Kauf genommen haben.
Spurensuche im Schwimmbad
Die Geschichte beginnt im Jahr 2002 in einem Berliner Schwimmbad. Niemitz beobachtet die Badenden und hat den Eindruck, diese Menschen folgen instinktiv bestimmten Mustern. In den folgenden Sommermonaten sammelt er Verhaltensprotokolle. Nur etwa zwei Prozent der Zeit im Freibad schwimmen Menschen; zehn Prozent der Zeit waten sie durchs flache Wasser. Den Rest der Zeit verbringen sie essend, spielend, ruhend oder plaudernd am Ufer. Was steckt dahinter? Zeitverschwendung? Oder gar erholsames Wirken der Gene?
Niemitz hat auch Tiere im Wasser beobachtet. Filmszenen zeigen Menschenaffen, die im hüfthohem Wasser immer auf zwei Beine gehen. Niemitz glaubt, unsere Vorfahren haben sich regelrecht an ein Leben am und im Wasser spezialisiert. So haben sie den aufrechten Gang erlernt und beibehalten. Auf zwei Beinen durchs Wasser zu gehen, anstatt auf allen Vieren, ist sinnvoll: Der Watende behält einen besseren Überblick und kann auch etwas tiefere Stellen durchqueren ohne zu schwimmen.
Der Körper des modernen Menschen zeige Anzeichen einer Anpassung an längere Aufenthalte im Wasser, so Niemitz. Gemeinsam mit Kollegen der Berliner Universität stellte er thermografische Aufnahmen von Affen und Menschen her. Dabei zeigte sich: Affen geben die Wärme vor allem über das Gesicht, die Arme und Beine ab, Menschen aber hauptsächlich über Gesicht und Brust. Bauch, Arme und Beine sind beim Menschen dagegen durch das sogenannte Unterhaut-Fettgewebe gut isoliert. Niemitz deutet das als Anpassung an langes Waten in kühlem Wasser.
Hochwertige Fettsäuren
Doch welchen Vorteil haben unsere Vorfahren dadurch gewonnen? Die einfach zu erschließenden Nahrungsquellen aus dem Wasser, meint Niemitz. "Eine Muschel läuft nicht so schnell weg wie ein Kaninchen", sagt er und schmunzelt. Doch mit ernster Miene verweist er auf die besonders hochwertigen Fettsäuren.
Zu rund 60 Prozent seiner Trockenmasse besteht das menschliche Gehirn aus hochwertigen Fetten. Die wiederum sind meistenteils aus sogenannten Omega-3-Fettsäuren aufgebaut, die man mit der Nahrung aufnehmen muss. Enthalten sind sie vor allem in fettem Fisch und anderen Meeresfrüchten, wie zum Beispiel Muscheln. Viele Mediziner und Ernährungswissenschaftler sehen in Fisch eine der wichtigsten Grundlagen für eine gesunde Ernährung.
Noch etwas spricht für Niemitz' These: Viele um die fünf bis sechs Millionen Jahre alte Frühmenschen-Fossilien haben Forscher in Äthiopien, im Tschad und in Kenia gefunden. Diese Regionen, so nehmen Geoforscher an, lagen zur Lebzeit dieser Frühmenschen am Rand eines großes Regenwaldes. Der Geograf Martin Trauth berichtet, dass diese Landschaft von Wasserläufen, Tümpeln und Seen durchzogen war. Frühmenschen wie Ardipithecus ramidus könnten sich hier auf Nahrungsquellen aus dem Wasser spezialisiert haben.
Kritische Stimmen
Martin Trauth arbeitet in einigen seiner Projekte mit Friedemann Schrenk zusammen, einem renommierten deutschen Urmenschenforscher. Der hält Niemitz' Idee für die bisher wahrscheinlichste Erklärung dafür, warum die Menschen sich irgendwann auf zwei Beine gestellt haben. Schrenk nimmt die These zum Anlass für seine Forschung: "Es ist eine direkte Folge der Hypothese von Carsten Niemitz, dass wir jetzt zusammen mit französischen Kollegen die auf Gewässer spezialisierte Lebensweise des Urmenschen in Westafrika untersuchen."
Doch es gibt auch Kritiker - Peter Schmid von Universität Zürich etwa. Er hält Rückschlüsse ausgehend von einer heutigen Vorliebe für Wasser für Phantasterei und hält sich lieber an Informationen, die sich bei der Untersuchung von Fossilien gewinnen lassen.
Auch Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist nicht überzeugt: "Die zitierten Funde belegen die Wassernähe zwar allgemein, aber nicht speziell die Ufertheorie. Menschen haben immer gern am Wasser gelebt", sagt er. "Wir gehen davon aus, dass der aufrechte Gang schon entstand, während die Menschen noch in den Bäumen lebten." Die offene Frage sei vielmehr, ob er sich nicht mehrfach und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten entwickelt habe.
Am Donnerstag, den 22.03.2012 um 22:10 Uhr, zeigt Arte den Dokumentarfilm "Das Geheimnis des aufrechten Gangs".