Familie und Individualität Wie das Ich entsteht
"Religion, Familie und Gemeinschaft geben nur die Bühne ab - das Stück muss jeder selber schreiben."
PICO DELLA MIRANDOLA (ÜBER DIE WÜRDE DES MENSCHEN)
Der Mann mit den fünf Namen war Satiriker aus Leidenschaft, und so kannte er auch keinen Respekt vor einer Institution, die zu seiner Zeit noch heilig war: "Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor", spottete er, "und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande."
Offensichtlich war Kurt Tucholsky alias Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser auf diese Spezies gar nicht gut zu sprechen: "Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles ansah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da", schrieb er weiter: "Einmal, nur ein einziges Mal friedlich ohne Familie dahinleben dürfen", das sei doch "die Sehnsucht des Menschengeschlechtes".
Tucholskys Aversion gegen die Familie wurzelte in eigener Erfahrung. Als Autor von "Rheinsberg" und "Schloss Gripsholm" erheitert der kluge Humorist und freisinnige Polemiker seine Leser zwar bis heute. Und manch blühender Übermut kann den Eindruck erwecken, Kurt Tucholsky habe die Leichtigkeit des Seins voll ausgekostet.
Aber die spielerische Oberfläche täuscht: "Tief unten knistert die Angst", gestand Tucholsky in Versen, die ihn selber spiegeln. Zeitlebens kämpfte er schreibend gegen Resignation und Trauer an: "Hinter den dicken Stäben meiner Ideale", dichtete er 1918, "lauf ich von einer Wand zur andern Wand." Doch selbst wenn der Wärter die Türe offen ließe: "Man geht ja nicht."
"Da betrieb einer öffentlich Psychoanalyse", sagt Tucholsky-Biograf Michael Hepp, "sezierte seine eigenen Leiden und Empfindungen." Zerrissen und rastlos reiste Tucho umher, träumte sich, kaum mit der lebenslang geliebten Frau verheiratet, wieder fort. Auch andere Liebesbeziehungen zerbrachen. Die "Sehnsucht nach der Erfüllung", ein Lebensthema, das er in vielen Briefen nennt, blieb ungestillt - bis zu seinem Ende mit 45 Jahren, das möglicherweise ein Selbstmord war.
Unter dem Begriff "Peter-Pan-Syndrom" hat der amerikanische Psychologe Dan Kiley resümiert, was auch die Leiden des berühmten Autors ausmachte: Angst, Suche nach Nähe und gleichzeitige Fluchtreaktionen, dabei der verborgene Wunsch, auf immer Kind zu bleiben. Dieses beschwerliche Bündel, so wissen die Seelenkundler, ist Folge einer tieftraurigen Kindheit - und dort ist es auch Tucholsky aufgeladen worden.
Kurt, das Kind aus gutbürgerlich-jüdischer Familie wurde, wie seine Geschwister, von der unerbittlichen Mutter malträtiert. "Ich könnte wie ein Gott in Frankreich leben, hätte ich die verfluchten Bälger nicht." Als schreiende, übellaunige Tyrannin beherrschte die Frau ihre beiden Söhne und Tochter Ellen. Anerkennung oder gar Liebe gab es niemals: "Wir waren ein Nichts", schrieb später Ellen.
Der geliebte, vielbeschäftigte Vater hatte auf das häusliche Leben wenig Einfluss, der 15-jährige Kurt musste dessen qualvollen Syphilistod miterleben und auch, wie die Mutter dem Sterbenden das Morphium verweigerte.
"Wir alle haben unser Glücksvermögen in der Kindheit erworben. Wird es dort gestört, bleibt es ein Erwachsenenleben lang gestört", warnt Wolfgang Bergmann, Kinderpsychologe und Lerntherapeut in Hannover. "Es darf Streit und Konflikt geben, aber niemals Lieblosigkeit." Denn aus versagter Liebe und enttäuschter Sehnsucht, so der Psychologe, "erwachsen Identitätsnöte und Weltverlorenheit".
In schlichten Bildern erklärt es der australische Familientherapeut Steve Biddulph: Läuft zu Hause alles klar und liebevoll, so sei "die Familie ein Garten, in dem das Selbstbewusstsein der Kinder wächst und gedeiht". Nach 25 Jahren Praxiserfahrung weiß der Erziehungsexperte und Autor weltweit gelesener Elternratgeber aber auch, dass die heimische Umwelt "eine Wüste sein kann", in deren Gefühlsdürre alles Grün verkommt.
Die Kreativität bahnte sich, im Falle Tucholsky, trotz aller Nöte ihren Weg. Und "die Selbstheilungskräfte der Kinder sind enorm", so Bergmanns tröstliche Erfahrung. Oftmals kann die seelische Entbehrung kompensiert und später zum Guten gewendet werden. Bergmann: "Ein Junge, der an seinem Vater sehr gelitten hat, kann selber ein besonders behutsamer Vater werden."
"Höchstes Glück der Erdenkinder sei doch die Persönlichkeit", lässt Goethe seine Suleika im "West-östlichen Diwan" sagen: Die ausgewogene, starke, sichere Persönlichkeit, die jeder sein möchte - wie kann sie in ihrer Keimzelle, der Familie, gedeihen? Wie stark ist die Macht dieses engen Verbundes, die im juristischen Fachausdruck gar als "elterliche Gewalt" daherkommt? Wie weit kann der Apfel unter welchen Bedingungen vom Stamm fallen?
Den Genpool der Ahnen und die direkte Umwelt zugleich bietet jede Familie ihren Sprösslingen, betonen Gerhard Vagt und Nina Krüger, Entwicklungspsychologen an der Universität Hamburg. Grundlegend für die Herausbildung von Persönlichkeit und Identität sei die "Bindung", die im Wechselspiel zwischen Mutter und Säugling entsteht.
Über die elementare Bedeutsamkeit der innigen Beziehung zwischen Mutter und Kind in den ersten drei Jahren schrieb schon Anna Freud vor mehr als einem halben Jahrhundert. In der modernen "Bindungsforschung" werden nun diese Erkenntnisse wiederbelebt und erweitert.
"Es ist nichts gänzlich festgeschrieben und unveränderbar"
Um dem Kind den rechten Halt für später mitzugeben, so die Theorie von John Bowlby und Mary Ainsworth, sollte der Stil dieser Bindung "sicher" sein, nicht "unsicher-ambivalent", auch nicht "ängstlich-vermeidend" oder gar "desorientiert". Diese Muster und ihre Qualität lassen sich aus der Art, wie das Kind nach kurzen Trennungen die Mutter empfängt, ermitteln. In einigen Untersuchungen mit Vätern konnten die Psychologen die gleichen Bindungsarten unterscheiden.
Nähe, Nahrung, Wärme sind die Grundbedürfnisse für den Aufbau einer sicheren Bindung, sie sind unerfüllt im "desorganisierten" Bindungsmuster : Die Kinder, beispielsweise süchtiger Mütter, fühlen sich hilflos, offenkundig schwanken sie zwischen Annäherung und Angst.
Doch so wichtig der Bindungsstil sein mag - bis ins Letzte lässt sich die Entwicklung der Persönlichkeit auch anhand dieser frühen Beziehung nicht vorhersagen - "glücklicherweise", wie Krüger sagt: "Es ist nichts gänzlich festgeschrieben und unveränderbar." Einen Ausgleich können spätere gute Erfahrungen schaffen, "ob mit einem Therapeuten oder in einer sehr glücklichen Partnerschaft". So könne, "im Nachherein eine positive Entwicklung noch möglich werden".
Dass die familiäre Prägung nicht Unentrinnbarkeit bedeutet, bestätigen zahlreiche Studien, die über Jahre hinweg die Persönlichkeitsentwicklung vieler Menschen verfolgt haben: In Kindheit und Jugend, so das Fazit, ist die Persönlichkeit in ständiger Bewegung, sie modifiziert sich noch bis hin ins Erwachsenenalter. Vielschichtige Wechselwirkungen und äußere Einflüsse, gemeinsam mit über Generationen vererbten Eigenschaften, formen innerhalb einer Familie höchst individuelle Persönlichkeiten aus.
"Auch eine objektiv gleiche Umwelt wird von verschiedenen Kindern unterschiedlich verarbeitet", sagt der Berliner Entwicklungspsychologe Jens Asendorpf. Wie die Kinder selbst, Jungen oder Mädchen, die Gegebenheiten innerhalb ihrer Familie wahrnehmen, sei von ihrer genetischen Ausstattung, der bereits entwickelten Persönlichkeit und ihrem Alter abhängig.
Wie komplex die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb engster Einheiten sein können, wurde der amerikanischen Persönlichkeitsforscherin Judith Rich Harris klar, als sie sich mit dem iranischen Zwillingspaar Ladan und Laleh Bijani befasste, das, am Kopf zusammengewachsen, nach erfolglosem Trennungsversuch 2003 starb.
"Kleinste Asymmetrien" im Umgang mit den eineiigen Zwillingsmädchen hätten bewirkt, so Harris, dass die beiden sich mit der Zeit sehr unterschiedlich entwickelten. Ladan, zufälligerweise häufiger angesprochen als ihre Schwester, übernahm mit der Zeit immer öfter das Antworten. So kam es, dass sie schließlich von Bekannten noch häufiger befragt wurde. Allmählich entwickelte sich dann Ladan zur redefreudigeren, Laleh zu stilleren Person: "No two alike" überschrieb die Forscherin ihr Buch über das Geheimnis der Persönlichkeitsentwicklung.
Weil die Kinder so verschieden seien, würden sie von den Eltern auch unterschiedlich behandelt, glaubt Rainer Riemann, Zwillingsforscher in Jena. Wie stark sich das Leben einzelner Geschwister innerhalb einer Familie unterscheidet, hat Thomas Mann in den "Buddenbrooks" beschrieben. In seinem eigenen Hause zeigte sich diese enorme Bandbreite von Persönlichkeiten - und zugleich auch wieder der starke, teils unheilvolle Einfluss einer "offenbar schrecklichen Familie", wie Psychologe Bergmann sagt.
Der "Zauberer", ein meist unsichtbarer Vater, bestimmte das häusliche Leben. Er "dominierte auf passive Weise", erinnerte sich Tochter Monika, als "Dirigent, der das Orchester durch sein bloßes Dasein beherrschte". In dieser Rolle verteilte er seine Zuneigung höchst ungleich. "Papas liebender Blick" sei sogar noch im Lachen der 80-jährigen Elisabeth Mann Borgese erkennbar gewesen, sagt Psychologe Bergmann. Elisabeth, das fünfte seiner sechs Kinder, war Thomas Manns absoluter und gehätschelter Liebling: "Sie ist in gewissem Sinn mein erstes Kind", schrieb er in sein Tagebuch.
Im strengen Gesicht des erwachsenen Golo, der als Erwachsener über die häusliche Kälte klagte und auch nicht im Familiengrab beerdigt werden wollte, spiegele sich, meint Bergmann, der abschätzige Blick des Vaters. "Die Pädagogik im Hause Mann", so formulierten es Inge und Walter Jens in ihrem Buch "Frau Thomas Mann", "war durch eine bisweilen extreme Parteilichkeit geprägt."
Mit "beispielloser Radikalität auf den einen ausgerichtet" (Jens), nämlich ihren Dichtergatten, konnte die durchaus nicht lieblose Mutter die schweren Defizite in der Zuwendung nicht ausgleichen: "Die Pädagogik gehört nicht gerade zu meinen Stärken", räumte sie ein. Nicht unmittelbar, sondern über ihren Mann habe sich die Mutter auf die Kinder orientiert, erklärt Bergmann. In schmerzhafter Erinnerung blieb dem berühmten Historiker Golo Mann ein Weihnachtsfest, bei dem ihm das Geschenk aus der Hand fiel und am Boden zerbrach. Von der danebenstehenden Mutter kam kein Trost, der Vater fragte sie trocken, was denn dieser Junge in ihrer Familie verloren habe.
Zu Zeiten, da von Pädagogik noch nicht die Rede war, betätigte sich hingegen Johann Sebastian Bach mit seiner reichen Kinderschar als Meister zumindest der musikalischen Erziehungskunst. Das 1720 für den damals eben zehnjährigen Wilhelm Friedemann begonnene "Clavier-Büchlein" zeigt, so die Bach-Biografin Dorothea Schröder, wie geschickt der Thomaskantor unterrichtete. "Mit seinen Kindern und auch anderen Schülern fing er das Compositionsstudium nicht eher an, als bis er vorher Arbeiten an ihnen gesehen hatte, woraus er ein Genie entdeckte", erinnert sich der berühmte Sohn Carl Philipp Emanuel.
Wer diese Bedingungen erfüllte, erhielt einen "inspirierenden, modernen Unterricht, der weit über das übliche Regelpauken hinausging" (Schröder). Der Vater sei streng gewesen, wenn "gemantscht" wurde, den Begabten aber "gestattete er große Freyheiten". Die Erinnerungen des Sohnes zeigen, wie die tolerante, experimentierfreudige Einstellung des Vaters die Neigung des Zweitältesten zu einer unkonventionellen eigenen Musiksprache förderte.
Über die ganz persönliche Beziehung zum "Herrn Papa" äußerte sich allerdings keines der Bach-Kinder, von denen einige zeitweilig noch zu Lebzeiten Bachs berühmter waren als der Vater. In offenbar munterer, ungezwungener Runde spielte man jedoch gemeinsam im "Collegium musicum": Während der Wintermonate ging es einmal wöchentlich ins Leipziger "Zimmermannische Coffè Haus", im Sommer in ein Gartenlokal.
An der Erblast eines ganzen Clans und an seinen ehrgeizigen Ansprüchen haben andere Sprösslinge prominenter Herkunft schwer zu tragen: Über "unausgesprochene Erwartungen von Eltern und Verwandten", so meinen psychoanalytisch ausgerichtete Familientherapeuten, können die Kinder "Symptomträger" des Familiensystems werden: Das Kind, das zur Therapie geschickt wird, trägt nur nach außen, was das eigentliche Problem der Familie ist.
"Unausgesprochene Erwartungen von Eltern", sagt Krüger, "können auch dazu führen, dass ich ihnen entspreche." Dem Mythos ihres mächtigen Clans mit seinen wiederkehrenden Lebensmustern entzog sich jetzt die Tochter von John F. Kennedy. Caroline, die letzte Hoffnung der einst mächtigen Politikerfamilie, deren Stammmutter die steinharte Rose gewesen war, kannte die Regel: Ein Kennedy gibt nicht auf.
Von der Autorität des Familiengedankens überwältigt, zwang sie sich auf den Weg zum Senatorinnenposten - und schmiss hin. Daran änderte auch nichts die tiefe Enttäuschung des todkranken Patriarchen Edward, der sie gedrängt hatte. Eine Kennedy gab auf, in einem Befreiungsakt, der zeigt, dass es Spielraum gibt im scheinbar festgefügten Familiensystem.
"Das Umfeld hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss", so Krüger. "Aber jeder hat seinen eigenen Willen, sich zu verändern, und kann letztendlich Akteur sein."