Fleisch aus dem Labor »Wir brauchen Alternativen, die keinerlei Verzicht bedeuten«

Anfang Dezember hat Singapur als erster Staat weltweit »In-Vitro-Fleisch« zugelassen. Der Wirtschafts- und Ethikexperte Nick Lin-Hi sagt, warum er den Ansatz für vielversprechend hält.
Ein Interview von Julia Merlot
In-Vitro-Fleisch: »Das Potenzial, ein perfektes Substitut zu erzeugen«

In-Vitro-Fleisch: »Das Potenzial, ein perfektes Substitut zu erzeugen«

Foto: HQuality Video / iStockphoto / Getty Images

SPIEGEL: Herr Lin-Hi, 2019 gab es einen regelrechten Hype um Fleischersatzprodukte auf Pflanzenbasis. Braucht die Welt da überhaupt noch In-Vitro-Fleisch aus dem Labor?

Lin-Hi: Ganz klar, ja. Die Technologie kann viel mehr leisten als pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte. Sie hat das Potenzial, ein perfektes Substitut zu erzeugen, während die pflanzlichen Alternativprodukte manchen tierischen Erzeugnissen zwar ähnlich sind, Fleisch aber nicht in Gänze ersetzen können. Wenn wir Ernährung als großen Hebel für mehr Klimaschutz und Tierwohl nutzen wollen, dürfen die Alternativen keinerlei Verzicht bedeuten, sonst nimmt die breite Masse sie nicht an.

SPIEGEL: Wie groß ist der Einfluss unserer Ernährung auf das Klima?

Lin-Hi: Riesig! Ungefähr ein Drittel aller menschengemachten Treibhausgasemissionen entstehen im Ernährungssektor, rund die Hälfte davon entfällt auf die Fleischproduktion. Die Begeisterung über vegetarische Burger-Patties im vergangenen Jahr war der erste Schritt klarzumachen, dass es Produkte jenseits des klassischen Fleisches gibt, die sehr ähnlich aussehen und schmecken. Sie können die Nachfrage des klassischen Fleischkonsumenten aber nicht gänzlich bedienen. Der Fleischkonsum nimmt global weiter zu.

SPIEGEL: In Singapur wurden Anfang Dezember erstmals Chicken-Nuggets mit Hähnchenfleisch aus dem Labor zugelassen. Allerdings enthalten sie auch einen bislang unbekannten Anteil Pflanzenproteine. Ist das nicht eine ziemliche Mogelpackung?

Lin-Hi: Die genannten Chicken-Nuggets sind ein Anfang. Momentan ist kultiviertes Fleisch noch relativ teuer. Und natürlich ist der Preis ein wichtiger Faktor. Indem Bestandteile auf Pflanzenbasis beigemischt werden, lässt sich das Produkt günstiger anbieten. Das ist eine gute Strategie, um mit dem Produkttyp überhaupt erst mal in den Markt hineinzukommen.

SPIEGEL: 2013 wurde vor TV-Kameras ein In-Vitro-Burger im Wert von 250.000 Euro gebraten. Wann rechnen Sie mit bezahlbaren Angeboten?

Lin-Hi: Wir unterschätzen, wie schnell der technologische Fortschritt sein kann. In den vergangenen sieben Jahren ist der Preis für ein In-Vitro-Patty auf etwa zehn Euro gesunken. Das ist immer noch zu viel für den Massenmarkt, aber mit größeren Produktionsvolumina und verbesserter Technologie wird der Preis in absehbarer Zeit konkurrenzfähig sein. Ich rechne sogar damit, dass Laborfleisch langfristig günstiger sein wird als herkömmliches Fleisch. Es könnte schon in zehn Jahren das Fleisch im Discounter verdrängen, ganz einfach, weil es billiger ist.

Wer bezahlt Nick Lin-Hi?

Nick Lin-Hi arbeitet für die Universität Vechta. Seine Forschung, Gehälter und Honorare finanzieren sich überwiegend aus öffentlichen Geldern. In der jüngeren Vergangenheit hatte er Forschungskooperationen zu Nachhaltigkeit in Lieferketten mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie dem chinesischen Textilhersteller KTC. Derzeit erhält er keine Förderung aus der Industrie. Lin-Hi berät gelegentlich Unternehmen und Verbände im Bereich Nachhaltigkeit und hält regelmäßig Vorträge bei Unternehmen, Politik, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen und weiteren Organisationen. Er ist beteiligt an der IWOP GmbH, einem Institut im Bereich Organisationsentwicklung.

SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?

Lin-Hi: Beim kultivierten Fleisch ist die Wertschöpfungskette viel kürzer. Fast alle Schritte finden in einem Bioreaktor statt. Es werden Zellen von einem lebenden Tier zusammen mit Nährstoffen hineingegeben und vermehren sich unter kontrollierten Bedingungen. Fertig. Die klassische Fleischproduktion fängt bei der Zucht an, dann müssen die Tiere gemästet werden. Dafür braucht es Futter, das oft in Südamerika angebaut wird und erst nach Europa transportiert werden muss. Dann kommen die Tiere zum Schlachter und müssen zerlegt werden. Da hängt eine komplexe Logistik dran.

SPIEGEL: Die Produktion im Bioreaktor braucht auch wertvolle Ressourcen. Die Stoffe, die die tierischen Zellen zum Wachstum anregen, werden aus dem Herzen lebender Kälberföten gewonnen. Das ist für die Produktion im großen Maßstab wohl kaum eine geeignete Alternative.

Lin-Hi: Das fötale Kälberserum zu ersetzen, ist der Schlüsselfaktor für die Produktion von konkurrenzfähigem In-Vitro-Fleisch. Es gibt zwei Probleme mit dem Stoff: Zum einen passt sein Einsatz nicht zum Ziel, Tierleid abzuwenden. Der zweite Punkt ist: Fötales Kälberserum ist unheimlich teuer und maßgeblich für die hohen Preise von In-Vitro-Fleisch verantwortlich. Das schafft die richtigen Anreize: Der Hersteller, dem es als Erstes gelingt, das Serum zu ersetzen, hat einen riesigen Wettbewerbsvorteil.

SPIEGEL: Welche Alternativen kommen infrage?

Lin-Hi: Es gibt verschiedene Ansätze, die derzeit getestet werden. Denkbar ist etwa, Wachstumsfaktoren aus Algen oder Pilzen zu gewinnen. Alternativ könnten gentechnisch veränderte Mikroorganismen die Stoffe herstellen. Das Prinzip wird für die Produktion von Medikamenten, etwa Insulin, bereits benutzt, dürfte im gentechnikkritischen Europa aber auf Protest stoßen.

SPIEGEL: Das trifft wahrscheinlich auch auf In-Vitro-Fleisch insgesamt zu. Würden die Menschen in Deutschland so ein Produkt überhaupt annehmen, falls es Behörden und Tester für sicher und schmackhaft befänden?

Lin-Hi: Die Leute hierzulande sind traditionell sehr skeptisch Neuem gegenüber. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Gesellschaft schon jetzt mit In-Vitro-Fleisch auseinandersetzt und nicht plötzlich überrascht ist, wenn es in einigen Jahren möglich ist, ein authentisches Stück Fleisch günstig, ohne Tierleid und bei geringem Ressourceneinsatz zu züchten. Es geht hier nicht um ein fernes Science-Fiction-Szenario, wir haben die Chance, ein riesiges Problem zu lösen, wenn wir es richtig angehen.

SPIEGEL: Würden Sie die gerade zugelassenen Chicken-Nuggets essen?

Lin-Hi: Ich würde sie sofort probieren. Gerade versuche ich für die Zeit nach der Corona-Pandemie einen Platz in einem Restaurant in Israel zu bekommen, das Burger mit In-Vitro-Hähnchen anbietet. Das Produkt ist offiziell noch nicht zugelassen, aber man kann sich in dem Laden für einen Platz bewerben, um es zu probieren. Ich stelle es mir absolut faszinierend vor, ein Stück Fleisch zu essen und zu wissen, dass dafür kein Tier sterben musste und ich das Klima nicht ruiniere.

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