Ernährung Wie Retortenfleisch die Welt retten soll

Forscher Mark Post mit künstlich hergestelltem Fleisch (Archiv)
Foto: FRANCOIS LENOIR/ REUTERS
Johann Grolle berichtet als Korrespondent für den SPIEGEL aus Boston. "Das ist die Welthauptstadt der Wissenschaft", sagt der langjährige Leiter des SPIEGEL-Ressorts Wissenschaft/Technik. An dieser Stelle schreibt er, was Forscher am MIT, der Harvard University und anderswo in den USA bewegt.
Für kleine Kinder ist es nicht leicht zu begreifen, dass Chicken Nuggets aus dem Fleisch einst lebender Hühner hergestellt werden. Künftige Kinder werden das vielleicht gar nicht mehr lernen müssen - weil es nicht mehr stimmt.
In der Biotech-Szene gibt es Visionäre, die glauben, dass die Zeit nicht mehr fern ist, in der die Massentierhaltung der Vergangenheit angehört - und zwar nicht etwa, weil die Tiere auf artgerechtere Weise gehalten würden, sondern schlicht, weil es diese Tiere gar nicht mehr gibt.
Gewiss: Das ist eine ziemlich fantastische Vision, und derzeit spricht viel dafür, dass die Mastställe noch lange Zeit vor sich hin stinken werden. Doch hier in den USA deutet zumindest ein Indiz darauf hin, dass die Ära des Kunstfleisches aus dem Biolabor wirklich demnächst anbrechen könnte: Erstmals befasst sich der amerikanische Kongress damit.
In einem jetzt vorgelegten Entwurf des Repräsentantenhauses wird angeregt, das US-Landwirtschaftsministerium möge vorsorglich Regelungen erlassen, unter welchen Umständen tierisches Gewebe aus dem Labor für den Verzehr zugelassen werden könne. Unter anderem soll es dabei auch um die Frage gehen, ob dieses dann "Fleisch" heißen darf.
Die Idee klingt denkbar einfach: Fleisch besteht größtenteils aus Muskeln, und die lassen sich auch aus Stammzellen herstellen - und zwar, weil sich Stammzellen fast unbegrenzt teilen, auch in großen Mengen. Theoretisch können aus einer einzigen Zelle binnen 50 Tagen zehn Tonnen Muskelfleisch hervorgehen. Das ist etwa die Menge, die 150 Deutsche in einem Jahr verzehren.
Fleisch fast aus dem Nichts erschaffen
Fleisch fast aus dem Nichts zu erschaffen: Das mutet an wie die biblische Geschichte von der Speisung der 5000. Kein Wunder, dass das nach dem Geschmack missionarischer Milliardäre ist. Sergey Brin etwa, einer der beiden Gründer von Google, investiert in die niederländische Firma MosaMeat, die schon im nächsten Jahr die erste Kunstfleischfabrik errichten will.
Microsoft-Gründer Bill Gates und der britische Unternehmer Richard Branson setzen auf das kalifornische Konkurrenzunternehmen Memphis Meats, das bis zum Jahr 2021 erste Produkte aus Laborfleisch auf den Markt zu bringen verspricht.
Die Verheißung ist groß: 16 Prozent des menschengemachten Treibhauseffekts werden durch Faulgase aus Rindermägen verursacht. Und auch sonst haben Klima- und Naturschützer Rind, Schwein und Huhn als vielleicht größte aller Umweltsünder identifiziert. Wälder werden abgeholzt, um Rinderherden Platz zu machen. Der Wasser-, Energie- und Flächenbedarf für den Tierfutteranbau ist gewaltig. Welch Wohltat für den Planeten, wenn all das nicht länger nötig wäre!
Muskelzellen vermehren und Fleisch herstellen sind jedoch zweierlei. Dies wurde bereits deutlich, als Mark Post, der Gründer der Firma MosaMeat, der Welt im August 2013 den ersten Hamburger aus außerhalb einer Kuh gewachsenem Rindfleisch präsentierte. Die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler durfte ihn testen. "Ähnlich wie Fleisch", konstatierte sie und würgte tapfer zwei Bissen herunter, den Rest ließ sie liegen.
Im Video: Ein Burger komplett aus Pflanzen gemacht
Noch ist ungewiss, ob die Kundschaft bereit sein wird, auf Fleisch umzusteigen, das nicht aus dem Kuhstall kommt. Immerhin gibt es Umfragen, die den Kunstfleischpionieren Hoffnung machen. Eines allerdings wissen sie genau: Ein Erfolg ist nur dann denkbar, wenn wirklich alles stimmt - Farbe, Konsistenz, Fettgehalt, Textur und natürlich der Preis des Retortenfleisches.
Beim ersten Burger stimmte fast nichts. In Kultur gehaltene Muskelzellen sehen weiß aus, was wenig appetitlich anmutet. Die meisten Farbstoffe aber sind hitzebeständig. Das Fleisch drohte deshalb auch nach dem Braten blutigrot zu bleiben. Immerhin: Mit einer Mischung aus Safran und roter Bete erzielte Post ein einigermaßen befriedigendes Resultat.
Die Kunstfleisch-Ingenieure machen jedoch rasch Fortschritte
Weniger leicht war der Umstand zu verbergen, dass der Labor-Burger weder Fett- noch Bindegewebszellen enthielt. Das machte das Fleisch fad und trocken. "Nicht so saftig", merkte Rützler höflich an. Das größte Hindernis aber, das einem Markterfolg im Wege gestanden hätte, war der Preis des ersten Kunstfleischprodukts: Post bezifferte ihn auf ungefähr eine Viertelmillion Euro. Da kommen selbst Trüffel und Kaviar nicht mit.
Die Kunstfleisch-Ingenieure machen jedoch rasch Fortschritte. Seit jener Erstvorstellung in London haben sie es geschafft, ihre Zellen zur Herstellung von Myoglobin zu animieren, was ihnen den richtigen Farbton gibt. Auch wachsen inzwischen einige Fettzellen im Kunstgewebe, was den Geschmack verbessert. Und vor allem: Die Kosten sind rasant gesunken. Post hält inzwischen einen Preis von 11 Euro pro Laborburger für realistisch.
Höchste Zeit also, jene Frage zu beantworten, die jetzt die Abgeordneten im US-Kongress aufwerfen: Ist das, was da im Labor-Inkubator heranreift, "Fleisch"? Post und seinen Mitstreitern liegt viel daran, diese Bezeichnung nutzen zu dürfen. Denn anders als bei Gemüse- oder Sojaburgern handle es sich hier doch zweifelsfrei um richtiges Muskelfleisch.
Die Lobby der Landwirte hingegen wehrt sich dagegen. Richtiges Fleisch könne nur von richtigen Tieren kommen. Den Bauern wäre es am liebsten, wenn schon der Name des Zeugs aus der Retorte der Kundschaft den Appetit verdirbt. "Tierisches In-vitro-Gewebe", finden sie, wäre zum Beispiel nicht schlecht.
Im Video: Fleisch - Des Deutschen liebstes Gemüse