
Denisova-Mensch: Der unbekannte Verwandte
Genforschung Forscher entschlüsseln Urmenschen-Erbgut
Es ist nicht mehr als eine Messerspitze Puder, und doch enthält es Johannes Krause zufolge eine Sensation: Gewonnen hat der Leipziger Genforscher das feine Pulver aus einem winzigen versteinerten Knöchelchen. Gefunden hat er darin ein ganzes Kapitel der Menschheitsgeschichte.
Fast das vollständige Erbgut eines bisher unbekannten Menschentyps konnten Krause und seine Kollegen am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie aus Molekülen zusammensetzen, die sie in dem Knochenmehl aufgespürt haben. Nach der DNA-Sequenz des modernen Homo sapiens und des Neandertalers ist damit jetzt das Genom einer dritten Art von Mensch entschlüsselt. "Denisova-Mensch" haben die Forscher diesen Fremdling getauft, über den sie im Fachmagazin "Nature" berichten .
Schon im Frühjahr hatte Krause der Weltöffentlichkeit verkündet, dass er auf die Überbleibsel einer neuen Menschenform gestoßen sei. Das einzige erhaltene Fossil sei das Fingerknöchelchen eines vor knapp 50.000 Jahren gestorbenen Mädchens, das in der sibirischen Dionysos-Höhle (russisch: Denissowa peschtschera) im Altai-Gebirge gefunden worden war.
Die Leipziger Wissenschaftler hatten sofort Interesse an dem Fund angemeldet, da sie sich gezielt für jene Zeit interessieren, in der sich der moderne Mensch den Lebensraum mit seinem Vetter, dem Neandertaler, teilte. Als Krause jedoch den winzigen Fingerknochen im Leipziger Reinraumlabor erstmals anbohrte, da ahnte er noch nicht, welche Sensation ihn erwartete.
Anfangs schien es eine Routineuntersuchung zu sein. Krause ging es nur darum, festzustellen, ob dieses Knöchelchen vom Mensch oder vom Neandertaler stammte. Doch die DNA-Sequenz, die er dann fand, glich nichts, was er je gesehen hatte: Krause war auf ein ganz anderes Wesen gestoßen, einen dritten Typ Mensch, der mit seinen beiden Vettern um die Vorherrschaft in Eurasien rivalisiert hatte.
Gesamtes Erbgut entziffert
Seit der ersten Veröffentlichung ihrer Entdeckung im März machten sich die Forscher daran, das gesamte drei Milliarden DNA-Buchstaben umfassende Erbgut des Neulings aus dem Altai-Gebirge zu entziffern. Und erst jetzt merkten sie, welch einen "Wunderknochen" (Krause) sie da untersuchten.
70 Prozent aller Erbgutschnipsel, die sie in dem Knochenpulver aufspürt haben, stammen von dem Denisova-Mädchen - nie zuvor haben Forscher steinzeitliches Erbgut von so hoher Reinheit gefunden. Normalerweise bestehen bei so alten Funden 99 Prozent allen Erbguts aus Verunreinigungen bakteriellen Ursprungs. Dank der beispiellosen Sauberkeit ihrer Probe reichte den Forschern die winzige Menge des Knochenstaubs aus, um daraus die fast vollständige DNA-Sequenz des Urmenschen-Mädchens zusammenzufügen. Das erlaubt es ihnen nun, bemerkenswerte Schlüsse über das Schicksal der rätselhaften Denisova-Menschen zu ziehen.
Vor vielleicht 300.000 Jahren trennte sich deren Sippschaft demnach von jenen Urmenschen, aus denen die hervorgehen sollten. Doch während sich die Neandertaler weiter westwärts im eiszeitlichen Europa ausbreiteten, zogen die Denisova-Menschen gen Osten.
Bisher konnte diesem Menschentypus nur dieser einzige Fund in Sibirien zugeordnet werden. Doch die Forscher gehen davon aus, dass der Denisova-Mensch in großen Teilen Asiens auf die Jagd gegangen sein dürfte. Dies schließen sie aus dem vielleicht verblüffendsten Befund ihrer Analyse.
Was passierte, als sich die verschiedenen Menschenformen begegneten?
Die spannendste Frage für die Paläoanthropologen nämlich ist, wie die verschiedenen Formen des Menschen aufeinander reagierten: Jagten sie einander? Oder gingen sie sich aus dem Weg? Oder raubten sie sich sogar wechselseitig die Frauen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, verglichen die Leipziger Forscher das Erbgut aus der Dionysos-Höhle mit demjenigen moderner Menschen. Weder bei Afrikanern, noch bei Europäern oder Chinesen stießen sie dabei auf die charakteristischen Merkmale des Denisova-Menschen. Einzig bei den Einwohnern Papua-Neuguineas fanden sie eindeutige Spuren einer Vermischung.
Irgendwo in Südostasien, so schließen die Forscher daraus, muss es zur Begegnung der beiden Menschenarten gekommen sein. Vermutlich siedelten dort längst verschiedene Denisova-Stämme, als der moderne Mensch vor vielleicht 30.000 Jahren bis nach Ostasien vorstieß. Beim Aufeinandertreffen müssen beide Menschentypen zwar nicht oft, doch immer wieder Sex miteinander gehabt haben. Später zogen die modernen Menschen dann mitsamt ihrer genetischen Mitgift südwärts weiter bis in die pazifische Inselwelt, wo aus ihnen die heutigen Melanesier hervorgingen.
Die Leipziger Forscher wollen nun in russischen oder chinesischen Sammlungen nach weiteren Fossilien suchen, die sich dem Denisova-Menschen zuordnen lassen. Falls dies gelingt, würde der neue Menschen-Vetter vielleicht auch ein Gesicht bekommen. Bisher sind Aussagen über seine äußere Erscheinung nicht möglich: Darüber gibt die DNA-Sequenz allein keine Auskünfte.
Einen Fund zumindest konnten die Leipziger Wissenschaftler schon jetzt präsentieren, zusammen mit der Veröffentlichung des Denisova-Erbguts: Ebenfalls in der sibirischen Höhle fanden sie einen Backenzahn. Sein Besitzer, so das Ergebnis der Erbgut-Analyse, war mit dem Denisova-Mädchen vergleichsweise nah verwandt.
Deutlich unterscheidet sich dieser Zahn von denjenigen aller anderen bekannten Menschenarten. Vor allem seine gewaltige Größe lässt die Forscher vermuten, dass er einst einem Mann gehörte. "Theoretisch könnte er natürlich auch von einer Frau stammen", meint der Leipziger Genforscher Svante Pääbo, "aber dann möchte ich dem Mann dazu lieber nicht begegnen."