Geowissenschaft Forscher finden Formel der filigranen Täler
Berlin - Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, entdeckt immer wieder faszinierende Muster. Zum Beispiel auf dem Fell von Giraffen, Tigern und Leoparden - oder auf Muschelgehäusen. Man kann die Muster einfach nur bestaunen, aber auch als mathematische Herausforderung betrachten. Mit welchen Gleichungen könnte man diese regelmäßigen Strukturen erzeugen? Und korrespondieren diese Gleichungen mit den biologischen Prozessen, beispielsweise beim Wachstum von Muscheln?
Ein bislang nur ansatzweise verstandenes Muster waren von Flüssen und Bächen geformte Landschaften. Ein Fluss fräst sich im Laufe der Jahrtausende ein immer tieferes Tal. Durch Niederschläge entstehen auch kleine Seitentäler. Warum diese in einem Gebirge feiner strukturiert sind als in anderen Gegenden, konnten Geologen bislang kaum schlüssig erklären. Ein neues mathematisches Modell, das Forscher im Wissenschaftsmagazin "Nature" vorstellen, könnte dies nun ändern.
Taylor Perron vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge und seine Kollegen haben die Landschaftsformung durch Wasser auf zwei wesentliche Prozesse reduziert: Zum einen schneiden sich Wasserläufe mit der Zeit tiefer in die Erde hinein und machen die Hänge steiler. Zum anderen gerät der Boden an den Hängen immer wieder ins Rutschen, macht so den Einschnitt breiter und schließt tiefe Einschnitte wieder.

Landschaftsformung: Faszinierende Muster der Erde
Wie das dabei entstehende Landschaftsmuster letztlich aussieht, hängt vom Zusammenspiel dieser beiden Prozesse ab. "Es entstehen feinere Verzweigungen, wenn das Einschneiden der Wasserläufe im Verhältnis zu den Erdbewegungen größer ist", erklären die Forscher. Die sogenannte Péclet-Zahl beschreibt, welcher der Prozesse dominiert. Je größer sie ist, umso stärker sind Einschnitte im Verhältnis zu Erdrutschen.
In ihrem Modell gingen die Wissenschaftler von einem idealisierten Anfangszustand aus: ein gerade verlaufender Gebirgskamm und ein parallel dazu liegendes Tal. Simulierte Regenfälle bringen das System aber schnell durcheinander. Das Wasser scheidet kleine seitliche Täler in die lange Flanke des Gebirgskamms, die im Winkel von 90 Grad zum Kamm Richtung Tal laufen.
Dabei gibt es abhängig von der Péclet-Zahl zwei Szenarien. Ist sie klein, haben die neu geformten Seitentäler einen konstanten Abstand voneinander. Überschreitet sie jedoch einen kritischen Wert, fräsen sich einige Täler so schnell in die Flanke, dass sie benachbarte Seitentäler quasi verschlucken und deutlich breitere Täler entstehen. Sie wechseln sich dann mit schmaleren ab - ein ganz anderes Landschaftsmuster entsteht.
Charakteristische Mulden in Seitentälern
Hinter diesem Phänomen steckt eine positive Rückkopplung. In einem breiteren Tal sammelt sich mehr Wasser, was wiederum den Abtransport von Material verstärkt und das Tal noch breiter macht. Es gibt aber auch eine negative Rückkopplung: Je steiler ein solches V-förmiges Tal ist, umso schneller wird es von rutschender Erde gefüllt. Oberhalb des kritischen Wertes der Péclet-Zahl ist die positive Rückkopplung stärker als die negative.
"Wir haben einen mathematischen Kipppunkt entdeckt", sagt Perron im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. An ihm entscheide sich, ob ein zufällig etwas breiteres Tal zu Lasten benachbarter Täler noch breiter werde oder ob alle Täler etwa ähnlich breit blieben.
Das Modell der MIT-Forscher kann aber noch mehr: Es erklärt auch, warum sich die Seitentäler meist noch weiter in kleinere Täler aufzweigen. Auch dieses Phänomen hängt mit der Péclet-Zahl zusammen. Ab einem gewissen Schwellenwert, der niedriger ist als der erste Kipppunkt für verschieden breite Täler, bilden sich die charakteristischen Mulden. Diese Minitäler lassen eine bergige Landschaft aus der Luft aussehen wie die Adern eines Ahornblattes. Diese Prozesse dauern sehr lange, typischerweise einige hunderttausend bis einige Millionen Jahre.
Perron und seine Kollegen haben die Voraussagen ihres Modells auch mit zwei realen Landschaften aus den USA verglichen: mit dem Allegheny Plateau im Südwesten Pennsylvanias und mit Gabilan Mesa, einer hügeligen Formation im Salinas Valley in Kalifornien.
Gabilan Mesa besteht aus lockererem Gestein als das Allegheny-Plateau in Pennsylvania. Zudem dominieren in der kargen kalifornischen Landschaft Gräser. Bäume oder Gebüsche, die den Boden stabilisieren, gibt es im Unterschied zum Allegheny Plateau kaum. Wegen des schwächeren Gesteins und der starken saisonalen Niederschläge fräst sich Wasser in dem kalifornischen Hochland siebenmal stärker in die Tiefe.
Ein Vergleich der Größe der Bodenmulden ergab, dass diese im Allegheny-Plateau etwa viermal so groß waren wie in Gabilan Mesa. Perrons Team glaubt, mit seinem Modell eine plausible Erklärung für dieses Phänomen gefunden zu haben: In der kalifornischen Landschaft arbeitet sich das Wasser schneller in die Tiefe, was zu feineren Verästelungen der Wasserläufe führt.
Der Zusammenhang von Péclet-Zahl und Landschaftsstruktur erlaubt auch Rückschlüsse in umgekehrter Richtung. Ein fein strukturiertes System aus Tälern, Mulden und Wasserarmen ist quasi eine Signatur der Gesteinsfestigkeit, des Klimas und der Natur. Denn sowohl Pflanzen als auch (grabende) Tiere haben Einfluss darauf, wie leicht Erdmassen ins Rutschen kommen.