Gesichtsblindheit Wenn alle gleich aussehen
"Eines Tages um die Mittagszeit", erzählt Bill Choisser, "traf ich meine Mutter auf dem Gehsteig und erkannte sie nicht." Sie sei "gar nicht amüsiert" gewesen über den Faux-pas ihres Sohnes, berichtet der auf seiner Webseite , und habe ihm "bis heute nicht vergeben". Für Choisser sind derartige Ereignisse keine lustigen Anekdoten, sondern ein lästiger Teil seines Alltags. Choisser leidet an einer Störung mit dem unhandlichen Namen Prosopagnosie - er tut sich schwer damit, Gesichter zu erkennen.
Obwohl dieses Problem in der Weltliteratur das eine oder andere Mal auftaucht, ist Prosopagnosie als definiertes Störungsbild erst 1947 zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben worden. Bis heute, glaubt man aktuellen Forschungsergebnissen, ist das Wissen um den Defekt so wenig verbreitet, dass weltweit Millionen von Menschen keine Ahnung haben, dass viele ihrer Schwierigkeiten auf ihn zurückzuführen sind. Zwei Prozent aller Menschen, schätzen Ken Nakayama von der Harvard University und seine Kollegen, leiden an Prosopagnosie, meist von Geburt an. Wer nie gelernt hat, wie es ist, Gesichter ohne Anstrengung unterscheiden zu können, merkt gar nicht, was ihm fehlt.
Martina Grüter kam in einer Studie an der Universität Münster für Deutschland auf einen ähnlichen Prozentsatz wie ihre US-Kollegen. Besonders angeborene Prosopagnosie sei sehr viel weiter verbreitet, als man bislang vermutet habe, sagt sie. Stimmen die Schätzungen, haben Hunderttausende von Deutschen Schwierigkeiten, Nachbarn, Kollegen und Freunde auf der Straße oder anderswo zu erkennen - ohne zu wissen warum.
"Mein Mann ist noch nie an mir vorbeigelaufen"
Diese verblüffend anmutende Erkenntnis verwundert Grüter allerdings nicht übermäßig. Sie weiß, wovon sie spricht - ihr Ehemann, der ebenfalls auf diesem Gebiet forscht, ist selbst prosopagnostisch. Das sei aber "nicht so beeinträchtigend, wie man sich das vorstellt", sagt sie, und fügt hinzu: "An mir ist mein Mann noch nie vorbeigelaufen, ohne mich zu erkennen."
Grüter wehrt sich auch gegen den manchmal synonym zu Prosopagnosie verwendeten Begriff "Gesichtsblindheit". Nur bei Menschen mit schweren Hirnschädigungen in bestimmten Bereichen sei die Gesichtswahrnehmung so beeinträchtigt, dass sie gar keine Gesichter mehr erkennen könnten. Für die Mehrzahl der Prosopagnostiker gelte dagegen: "Wenn jemand regelmäßig Zeitung liest, kann er auch Politiker erkennen." Die Betroffenen könnten lernen, "die richtigen Strategien aktiv zu nutzen", sich an konkreten, möglichst unveränderbaren Merkmalen zu orientieren. Ohrenform, Augenabstand oder Haaransatz seien etwa günstige Orientierungspunkte, um jemanden wiederzuerkennen. Außerdem sei in üblichen Alltagssituationen ja viel mehr Information verfügbar - Stimme, Haltung, Mimik und Statur etwa.
Insofern macht es die Methode, mit der Nakayama und seine Kollegen ihre Studie durchführten, Prosopagnostikern besonders schwer: Die Versuchspersonen bekamen Bilder von Autos, Werkzeugen, Gebäuden und anderen Objekten zu sehen - und eben von Gesichtern. Bei jedem neuen Bild sollten sie möglichst schnell angeben, ob sie es schon einmal gesehen hatten oder nicht. Prosopagnostiker scheitern hier oft - obwohl sie bei Objekten die Wiederholungen leicht bemerken. Aber natürlich sind bei Fotos die meisten Merkmale, die Prosopagnostiker sonst zu Hilfe nehmen können, nicht gegeben.
"Wie ein Film mit lauter blonden Frauen"
Erwachsene, die mit der Störung leben, kommen oft hervorragend zurecht - Martina Grüter kennt "Rechtsanwälte, Ärzte, Schulrektoren" mit Prosopagnosie - was vermutlich einer der Gründe ist, warum bis vor einigen Jahren "nur 100 Fälle weltweit dokumentiert waren", wie Nakayama erklärt. Erwachsene mit der Störung haben "Probleme in einer Verwechslungskomödie, oder mit einem Film, in dem lauter ähnlich aussehende blonde Frauen vorkommen", sagt Grüter, aber im Alltag hätten sie Strategien entwickelt, um Menschen trotzdem zu unterscheiden.
Das Problem, sagt Grüter, seien die Kinder. 50 Prozent des Nachwuchses von Prosopagnostikern hätten selbst Probleme mit Gesichtern - und das kann, etwa im Kindergarten, durchaus zu sozialer Ausgrenzung führen. Würden Kindergärtner und Eltern aber richtig instruiert, könnten sie frühzeitig gegensteuern und auch Tipps geben. "Zum Beispiel, dass man sich Jana nicht darüber merkt, dass sie ein rotes Kleid anhat, sondern lieber über die Form ihrer Ohren", sagt Grüter.
"Das Bewusstsein allein macht vielen Betroffenen das Leben leichter." Wenn das eigene Kind im Kindergarten also Schwierigkeiten hat, sich in eine Gruppe zu integrieren, muss man nicht gleich an Autismus oder ähnliches denken - vielleicht kann es seine neuen Spielkameraden einfach nicht auseinanderhalten.