Christian Stöcker

Globalisierungsängste Zurück in ein Gestern, das es nie gab

Christian Stöcker
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Die Pandemie beschleunigt einen Trend: Eine wachsende Anzahl von Menschen sieht "die Globalisierung" mit Sorge und Skepsis. Das macht ein grundlegendes Missverständnis über die Gegenwart sichtbar.
Unfassbare Vernetztheit: Als nähmen viele Menschen den riesigen Eisberg, auf dem die Menschheit dahintreibt, zum ersten Mal wahr.

Unfassbare Vernetztheit: Als nähmen viele Menschen den riesigen Eisberg, auf dem die Menschheit dahintreibt, zum ersten Mal wahr.

Foto: Nicolas Herrbach/ iStockphoto/ Getty Images
"Ich bin es oft leid, Informationen zu verarbeiten. Ich bewege mich, so schnell ich kann, aber die Welt ist überwältigend gewaltig und schnell."

Cesar Hidalgo, "Wachstum geht anders" (2016)

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie die Welt nicht mehr verstehen? Dass alles zu schnell geht, zu unübersichtlich ist, dass es keine Vorhersagbarkeit mehr gibt, keine Verlässlichkeit, nichts von Dauer ist?

Damit sind Sie nicht allein. Und Sie haben recht: Sie verstehen die Welt nicht. Niemand versteht die Welt. Jedenfalls nicht in Gänze.

Tatsächlich ist das Wissen der Menschheit über den Planeten, auf dem sie lebt und über die Systeme, die sie selbst geschaffen hat, in den vergangenen gut zweihundert Jahren unfassbar gewachsen. Damals war die Evolution als Prinzip noch nicht verstanden, von Genetik ganz zu schweigen. Das menschliche Wissen über das Universum, das wir bewohnen, war extrem beschränkt. Und sämtliche Technologien, die heute den Globus verändern, waren noch nicht erfunden.

"Früher" gibt es nicht mehr

Von der Entwicklung der Landwirtschaft bis zur ersten Milliarde Menschen, sie wurde etwa 1820 erreicht, vergingen ungefähr 10.000 Jahre. In den folgenden 200 Jahren wuchs die Weltbevölkerung dann fast um den Faktor acht, im Moment sind wir rund 7,8 Milliarden. 1960 waren es noch drei.

Anders gesagt: Immer, wenn jemand "früher" sagt, spricht er oder sie von einer Welt, die buchstäblich nicht mehr existiert. Und die sich auch mit absoluter Sicherheit nicht wiederherstellen lässt, nicht einmal in Ansätzen. Politiker, die eine Rückkehr zum "Früher" versprechen, sind deshalb Märchenerzähler, denen man nicht über den Weg trauen darf. Wenig überraschend: Der Anteil der Globalisierungsängstlichen unter den Wählern der AfD ist besonders groß.

Die größten Treiber der Großen Beschleunigung  der vergangenen etwa 70 Jahre sind Wissenschaft und Technologie, Bevölkerungsentwicklung und Märkte - und deren komplexe Wechselwirkungen. Gemeinsam haben diese Veränderungsmächte einen Zustand herbeigeführt, der in der Menschheitsgeschichte einmalig ist: Der permanente, sich permanent weiter beschleunigende Wandel ist zu einem Dauerzustand geworden.

Darauf sind wir nicht vorbereitet

Darauf ist die Menschheit nicht vorbereitet. Unsere Gene sind in etwa die gleichen wie die der ersten Menschen, die vor 10.000 Jahren begannen, sesshaft zu werden. Wir sind, aus heutiger Sicht, für ein extrem langsames, veränderungsarmes Leben optimiert.

Dass diese Steinzeitmenschheit sich eine so unfassbar komplexe, für keinen einzigen Menschen mehr durchschaubare Welt gebaut hat, ist ein Wunder. Ein überraschendes Nebenprodukt der Tatsache, dass wir in der Lage sind, zu kooperieren und mögliche Folgen konkreter Handlungen vorher im Kopf zu simulieren. Oder, um es mit dem eingangs zitierten Physiker César Hidalgo zu sagen: Informationen zu verarbeiten.

Es ist aber für Einzelne schon sehr lange nicht mehr möglich, alle Informationen zu verarbeiten, die nötig wären, um eine Vorstellung von der Komplexität der Welt im Kopf zu haben. Das Wissen über die Welt, über das die Menschheit verfügt, ist verteilt gespeichert in einzelnen Köpfen, vor allem aber in Netzwerken. Niemand, der bei VW arbeitet, auch nicht der genialste Ingenieur, könnte allein ein modernes Auto bauen. Geschweige denn ein Flugzeug oder einen Computer.

Dezentrale Komplexität

Der extremste und deshalb auch potenziell subjektiv beunruhigendste Ausdruck dieser dezentralen Komplexität ist der Weltmarkt oder besser: sind die Weltmärkte, denn es sind in Wahrheit viele.

Stellen Sie sich zur Illustration Folgendes vor: Von allem, was Sie im Moment am Leib tragen, Schuhe, Kleidung, Kreditkarten, Smartphone und so weiter, werden auf einer virtuellen Weltkarte Linien zu allen Ursprüngen dieser Produkte eingezeichnet. Das T-Shirt stammt vielleicht aus Indien oder Bangladesch, die Jeans aus Pakistan, die Baumwolle für beide aus den USA. Im Smartphone stecken seltene Erden aus dem Kongo, Speicherchips aus Korea, zusammengelötet wurde es in China, das Bildschirmglas und das Design kommen aus den USA. Und so weiter.

Ihre Silhouette auf der Weltkarte mit all den Linien zu den Ursprüngen all der Produkte sähe aus wie eine Spinne in einem sehr komplizierten Netz. Jeder Mensch auf dem Planeten ist von solch einem unsichtbaren Netz umgeben. Und kein Mensch auf dem Planeten versteht alle Prozesse, die dazu notwendig waren. Geschafft hat das ein System, das viel größer und komplexer ist als seine Bestandteile.

So widersinnig wie nachvollziehbar

Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass offenbar eine stetig wachsende Zahl von Menschen hierzulande "die Globalisierung" vor allem als Risiko betrachtet, so widersinnig wie nachvollziehbar. Die globalisierte Wirtschaft ist ein unverständlich komplexes, amorphes, mächtiges Gebilde. Es hat sehr konkrete Auswirkungen auf das Leben Einzelner, auf Regionen und den Planeten als Ganzes. Auf Lohnniveaus, die Rentabilität von Unternehmen oder ganzen Branchen zum Beispiel. Aber auch auf Umweltstandards, Lebensmittelpreise und natürlich nicht zuletzt das Weltklima.

Dass in einer diese Woche im SPIEGEL veröffentlichten Umfrage zufolge die Globalisierungsbesorgnis seit Januar noch einmal dramatisch zugenommen hat, macht aber deutlich: Die "Globalisierung", die viele Menschen bedrohlich finden, scheint eine andere zu sein als die, die den Planeten in den vergangenen 70 Jahren so dramatisch verändert hat.

Globalisierung ist kein verhandelbarer Baustein

Die Pandemie scheint vielen Menschen nahezulegen, dass globale Vernetzung auch gewachsene Verletzlichkeit mit sich bringt. Dabei gerät aus dem Blick, dass es die Welt von heute ohne diese globale Vernetzung nicht gäbe. Die reale Globalisierung ist kein verhandelbarer Baustein der Lebensrealität im 21. Jahrhundert. Man kann sie nicht einfach ausknipsen und zu einer Welt zurückkehren, in der alle Produkte mit lokalen Rohstoffen national produziert werden. Diese Welt gibt es schon seit vielen Jahrhunderten nicht mehr.

Die gerade so lautstark auftretenden Verschwörungsgläubigen ersetzen die reale, für jeden Einzelnen zwangsläufig überfordernde Komplexität der Gegenwart durch eine fiktive, in der dunkle Mächte eben doch alles durchschauen und lenken. Der schwer auszuhaltende Zustand einer undurchschaubar erscheinenden Welt wird durch ein Märchen von nahezu allmächtigen "Eliten" ersetzt, die die Komplexität nicht nur durchschauen, sondern heimlich dirigieren.

Den Eisberg wahrnehmen und erschauern

Die Pandemie richtet einen Scheinwerfer auf diese unfassbare Vernetztheit. Es ist, als nähmen viele Menschen den riesigen Eisberg, auf dem die Menschheit dahintreibt, zum ersten Mal wahr. Als erahnten sie zum ersten Mal, was alles unter der Wasseroberfläche liegt - und erschauerten.

Diese instinktive Abwehrreaktion ist verständlich, aber kontraproduktiv. Es kann nicht darum gehen, die Globalisierung zurückzudrehen oder gar zu beenden, jedenfalls nicht, wenn man nicht absichtlich eine gigantische Menschheitskatastrophe herbeiführen will.

Märkte brauchen Regulierung

Tatsächlich waren viele Akteure und Profiteure der Märkte in dem rasanten Veränderungsprozess der letzten etwa 70 Jahren vielfach besonders effektiv dabei, ihre Interessen durchzusetzen. Von der Beschleunigung haben Reiche und Superreiche weit überproportional profitiert. Unternehmen und Märkte sind schneller als Regierungen, Behörden und internationale Institutionen, das ist eine Binsenweisheit. Märkte brauchen aber Regulierung, sonst dienen sie nicht allen Menschen, sondern einigen wenigen ganz besonders. Zerstören unsere Lebenswelt, machen Menschen krank, vergesellschaften die Schäden, die sie anrichten.

Es gilt deshalb, mit nationaler Regulierung und internationaler Kooperation, mit Verträgen, Abkommen und Institutionen die globalisierte Wirtschaft zu zähmen. Und zwar weit mehr und effektiver, als das im Moment der Fall ist.

Die Globalisierung abschaffen, in eine fiktive Vergangenheit zurückkehren - das geht nicht. Wer es verspricht, dem ist nicht zu trauen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten