Studie zu Emissionen Wie klimaschädlich darf Grundlagenforschung sein?

In China soll ein riesiges Neutrino-Observatorium entstehen. Schon vor Baubeginn wird über ökologische Auswirkungen diskutiert. Das Beispiel zeigt: Die Klimakrise ist bei den Astronomen und Astronominnen angekommen.
Möglicher Standort für Anlagen des »Grand«-Observatoriums im chinesischen Tienschangebirge

Möglicher Standort für Anlagen des »Grand«-Observatoriums im chinesischen Tienschangebirge

Foto: GRAND Team

Mit unvorstellbarer Energie jagen sie aus den Tiefen des Alls heran und weder Galaxien noch Sterne oder Planeten können sie aufhalten. Weil Neutrinos keine elektrische Ladung und nur eine sehr, sehr geringe Masse haben, treten sie nur selten mit »normaler« Materie in Kontakt. Wenn aber doch, dann können sie Forscherinnen und Forschern Einblicke in die extremsten Orte des Universums liefern. So konnte vor rund zweieinhalb Jahren ein Schwarzes Loch in einer mehrere Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie im Sternbild Orion als Quelle identifiziert werden . Als natürlicher Teilchenbeschleuniger beschleunigt es Partikel viele Millionen Mal so stark wie es von Menschen gebaute Anlagen wie der Large Hadron Collider (LHC) bei Genf vermögen würden.

So könnte ein kosmischer Teilchenbeschleuniger aussehen

So könnte ein kosmischer Teilchenbeschleuniger aussehen

Foto: DESY / Science Communication Lab

Mit zahlreichen Experimenten wird weltweit nach hochenergetischen Neutrinos aus dem All gesucht.

Ein noch viel größeres Neutrino-Observatorium wollen Forscher in China und anderen Standorten wie Südamerika und Australien aufbauen. Das »Giant Radio Array for Neutrino Detection«, kurz »Grand«, soll ein Antennenwald riesigen Ausmaßes werden. Mit seiner Hilfe soll in der Atmosphäre nach verräterischen Radiosignalen gelauscht werden, die Neutrios bei Kollisionen durch die Atmosphäre schicken. Die größte derzeit geplante Ausbaustufe der Anlage würde 200.000 Messgeräte auf 200.000 Quadratkilometern umfassen, also auf einer Fläche mehr als halb so groß wie Deutschland.

Die französische Astrophysikerin Kumiko Kotera, sie arbeitetet am Astrophysikalischen Institut Paris und der Freien Universität Brüssel, ist eine der Leiterinnen des gigantischen Projektes. Und zusammen mit zwei Kolleginnen hat sie gerade einen Artikel  zur CO2-Bilanz des geplanten Antennenverbunds veröffentlicht. Aktuell ist das Manuskript noch nicht von Kollegen begutachtet, es soll aber zur Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift eingereicht werden.

»Wir wollten wirklich wissen, welchen Einfluss unser geplantes Projekt hat«, beschreibt Kotera die Motivation Gespräch mit dem SPIEGEL. »Nach unseren Erkenntnissen ist so etwas im Bereich der Astrophysik noch nicht untersucht worden.« Konkret betrachten die Autorinnen den Treibhausgasausstoß bei der Herstellung der Anlagen, beim Betrieb der IT-Infrastruktur sowie die Klimabilanz der für die Forscher anfallenden Reisen. Dabei wurde alles auf die entsprechende Menge CO2 umgerechnet.

Entscheidend für die Klimawirkung, das zeigt ein Blick in den Artikel, ist die Größe des Projektes. Die Autorinnen untersuchen konkret drei verschiedene Ausbaustufen:

  • Ein Prototyp des Observatoriums (»GrandProto300«), bei dem ab diesem Jahr 300 Radioantennen auf 200 Quadratkilometer Fläche aufgestellt werden sollen. Gesamtemissionen: 478 Tonnen CO2 pro Jahr.

  • Eine mittlere Ausbaustufe (»Grand10k«), bei der ab 2025 insgesamt 10.000 Antennen auf 10.000 Quadratkilometern verteilt werden. Gesamtemissionen: 1061 Tonnen CO2 pro Jahr.

  • Der Endausbau (»Grand200k«), bei dem nach 2030 an etwa 20 Standorten insgesamt 200.000 Antennen aufgestellt werden sollen. Insgesamt wären sie auf mehr als 200.000 Quadratkilometern Fläche installiert. Gesamtemissionen: 13.385 Tonnen CO2 pro Jahr.

Zur Einordnung: Jeder Deutsche stößt pro Jahr statistisch gesehen  10,4 Tonnen an Treibhausgasen aus. Und ein Diesel-Pkw wie der Mercedes C 220d kommt bei einer Fahrleistung von insgesamt 250.000 Kilometern auf insgesamt 65 Tonnen Kohlendioxidausstoß, wenn man auch die Herstellung mit einrechnet. So hat es jedenfalls die Technische Universität Eindhoven im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion kalkuliert .

Folgt man diesen Zahlen, dann müssten also pro Jahr nur etwa 1000 Pkw nicht gebaut und gefahren werden, und die Menschheit könnte sich die Klimawirkung des Neutrino-Experiments sozusagen leisten. Wobei das natürlich unberücksichtigt ließe, dass die Weltwirtschaft binnen wenigen Jahrzehnten treibhausgasneutral werden soll.

Nicht alle Daten wird man aufheben können

Beim »Grand«-Observatorium sind die verschiedenen Bereiche – Digitalinfrastruktur, Reisen, technische Anlagen – je nach Ausbaustufe unterschiedlich wichtig für die Gesamtrechnung. In der Prototypenversion kommen die meisten Belastungen im Bereich Computertechnik zusammen. Insgesamt 69 Prozent der Emissionen entstehen durch die Nutzung von Supercomputern verschiedener Universitäten, durch die Herstellung der Laptop- und Desktoprechner, die Speicherung der anfallenden Daten, durch Videokonferenzen und Mails. Auf Reisen entfallen 27 Prozent der Emissionen, auf die Messgeräte nur 4 Prozent.

Ganz anders sieht das bei der maximalen Ausbaustufe aus, hier wären die Gerätschaften für 48 Prozent der Gesamtbelastung verantwortlich, das Reisen nur noch für 7 Prozent. Der Digitalbereich würde für immerhin 45 Prozent der Emissionen sorgen.

»Insgesamt fanden wir es überraschend, welche große Rolle die digitalen Technologien als Quellen für die Treibhausgase spielen«, sagt Kotera. Aus den Erkenntnissen will das Team nun praktische Schlussfolgerungen ziehen. Unter anderem geht es um die Frage, welche riesigen anfallenden Datenmengen tatsächlich gespeichert werden müssten. »Wir können definitiv nicht alles aufheben«, sagt Kotera. Aus der Radioastronomie sei das Problem bereits jetzt bekannt. Man hoffe nun auf clevere Strategien zum Datenmanagement aus diesem Bereich. Auch für den Transfer der Datenberge bietet die Untersuchung eine verblüffende Idee: Für die Umwelt könnte es sinnvoller sein, Speichermedien per Luftpost zu verschicken als die viele Petabytes an Informationen über das Netz zu versenden.

»Das Papier ist sehr interessant für die gesamte Community.«

Victoria Grinberg, Astrophysikerin an der Universität Tübingen

»Die Bilanz macht Sinn, die Annahmen erscheinen plausibel. Das Papier ist sehr interessant für die gesamte Community«, kommentiert Victoria Grinberg von der Universität Tübingen die Untersuchungen von Kotera und ihren Kolleginnen. Die Astrophysikerin war nicht an den Auswertungen beteiligt, engagiert sich aber bei Astronomers for Planet Earth , einem weltweiten Verbund klimainteressierter Astroforscher.

Das Thema Klimaschutz gewinnt in der Community immer mehr an Bedeutung. Das zeigen auch mehrere Veröffentlichungen aus dem vergangenen Jahr. In einer ganzen Reihe hat sich die Zeitschrift »Nature Astronomy« mit der Frage befasst, wie viel Treibhausgase allein dadurch zusammenkommen, dass Astronomen regelmäßig zu großen Konferenzen  in verschiedenen Teilen der Welt reisen. Ergebnis: Ein Onlinemeeting produziert weniger als ein Tausendstel der Kohlendioxidemissionen eines klassischen Vor-Ort-Treffens.

Australische Forscher haben alle durch sie anfallenden Emissionen aufsummiert . Demnach liegen mehr als 40 Prozent über dem – ohnehin im internationalen Vergleich  recht hohen – Durchschnitt ihres Landes. Eine vergleichbare Rechnung  hat auch das Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg für seine rund 320 Mitarbeiter aufgemacht. Erstautor dieses Forschungsaufsatzes war Knud Jahnke. Fragt man ihn nach Koteras Arbeit, äußert auch er sich positiv.

Bei einzelnen Aspekten könne man gewiss Details diskutieren, wie etwa den für den Datentransfer angesetzten Stromverbrauch. »Insgesamt finde ich das aber ein extrem gutes Beispiel, wie jedes Projekt es machen sollte«, sagt Jahnke. Nur wenn solche Daten zur Verfügung stünden, sagt Jahnke, könne man sehen, wo Maßnahmen zur Emissionsreduktion sinnvoll seien – und welche angesichts eines begrenzten Budgets an Zeit und Geld als Erstes angegangen werden sollten.

Forscherin Kotera sagt, sie habe sich zunächst Sorgen gemacht, als man die Berechnungen zu den Klimafolgen begonnen habe. Doch die Rückmeldungen aus dem Forschungsverbund seien sehr positiv gewesen. »Außerdem haben wir uns gedacht, dass diese Frage in Zukunft früher oder später sowieso auf uns zugekommen wäre.«

Anmerkung der Redaktion: Wir haben einen Fehler in der Vergleichsrechnung zur Klimawirkung des Experiments nach der ersten Veröffentlichung des Artikels korrigiert.

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