
Computersimulation: Der Weg der Seuche
Computersimulation Kreis-Modell sagt Ausbreitung von Seuchen voraus
Die Ausbreitung einer Pandemie über den Erdball ist ein komplizierter Prozess. Die Schweinegrippe von 2009 beispielsweise hatte ihren Ursprung in Mexiko. Bald wurden die ersten Infektionen in den benachbarten USA registriert, über Spanien und Großbritannien gelangte das H1N1-Virus einen Monat später nach Westeuropa und noch einen Monat danach nach Asien und Osteuropa. Die Sars-Epidemie brach 2003 in China aus - und war trotzdem schneller in den USA als in Korea und Singapur.
Die beiden deutschen Physiker Dirk Brockmann von der Humboldt-Universität Berlin und Dirk Helbing von der ETH Zürich berichten nun im Fachblatt "Science" über eine neue Methode zur Vorhersage der Seuchen-Ausbreitung. Ihr Modell lässt nach Aussagen der Forscher sogar zu, aus den weltweiten Infiziertenzahlen an einem Stichtag den Ursprungsort des Erregers zu ermitteln.
"Wenn Sie einen Stein ins Wasser werfen, können Sie vorhersagen, welcher Punkt auf dem See wann von der Welle erreicht wird", sagt Brockmann. "Wir haben uns gefragt: Ist die Ausbreitung von Infektionskrankheiten im Vergleich dazu viel komplexer, oder sieht sie nur komplexer aus?"
Der "Science"-Beitrag liefert nun eine Antwort, die selbst die Forscher überrascht hat: Auch die Seuchenausbreitung ähnelt tatsächlich einer kreisförmigen Welle, die ein Stein im Wasser erzeugt. Man muss die Entfernungen der Orte und Länder nur anpassen - und zwar in Abhängigkeit von den Flugverbindungen.
Prinzip der effektiven Entfernung
Helbing und Brockmann nutzen in ihrem Pandemiemodell Differentialgleichungen, welche unter anderem die Infektionsrate, die Erholungsrate von Infizierten und den Transport des Erregers von Flughafen zu Flughafen abbilden.
Pandemieforscher wissen schon seit längerem, dass in der modernen, hochvernetzten Welt Flugverbindungen darüber entscheiden, wohin ein Erreger wie schnell gelangt. Für ein Grippevirus liegt New York deshalb näher an London als das schottische Aberdeen. Je mehr Menschen zwischen zwei Orten täglich hin- und herfliegen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Erreger übertragen wird.
Bei der Visualisierung der Infektionswelle nutzten die Forscher zunächst eine normale Weltkarte. Das Video oben zeigt eine solche Pandemiesimulation, die von Atlanta in den USA ausgeht. Im nächsten Schritt baute Brockmanns Team die Karte um: Die Orte wurden nicht nach tatsächlicher Entfernung zum Ursprungsort der Infektion um diesen platziert, sondern nach der effektiven Entfernung für den Erreger. Auf dieser neuen Karte liegen dann Orte, die durch viele Flüge miteinander verbunden sind, besonders nahe beieinander.
Die Umordnung der Städte macht aus dem komplexen Ausbreitungsmuster auf der Weltkarte eine simple kreisförmige Welle - genau wie beim ins Wasser geworfenen Stein (siehe zweites Video). "Jetzt verstehen wir unsere Modelle erst richtig", sagt Brockmann, der inzwischen auch für das Robert-Koch-Institut in Berlin arbeitet.
Die Fotostrecke zeigt unter anderem die effektive Entfernung zu großen Flughäfen aus der Perspektive Hamburgs. London-Heathrow ist demnach nur minimal weiter entfernt als Frankfurt - diese beiden Airports würde ein neuer Erreger von Hamburg aus zuerst erreichen. Kurz danach würde er in Paris und Bangkok ankommen.
Wahrscheinlichsten Ursprungsort ermitteln
Eine Seuche könne viele Wege gehen, erklärt Brockmann. Dabei spiele auch der Zufall eine Rolle. Es zeige sich jedoch, dass Erreger stets den kürzesten Weg zwischen zwei Orten nähmen - dies bestätigten Vergleiche mit den Daten realer Pandemien.
Das Modell lässt sich auch rückwärts nutzen: "Wir können nun den wahrscheinlichsten Ursprungsort einer laufenden Pandemie oder Epidemie identifizieren", sagt Brockmann. Dazu müsse man sich nur nacheinander alle Flughäfen des Modells als Ursprungsort vorstellen und schauen, ob die Orte, in denen die Infektionswelle gerade ihr Maximum erreicht habe, auf einem Kreis um den jeweiligen Ursprungsort herum liegen. Ist das der Fall, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den gesuchten Ausgangspunkt.
"Wir konnten mit unserem Modell die Ursprungsorte der Schweinegrippe und von Ehec mit Computerhilfe bestätigen", sagt Brockmann. "Es waren Mexiko und der Landkreis Uelzen."
Im globalen Maßstab reichen nach Meinung der Forscher allein die Flugverbindungen aus, um die Ausbreitung einer Seuche vorherzusagen. Will man jedoch eine lokale Epidemie etwa nur in Deutschland simulieren, müssten auch kürzere Bewegungen berücksichtigt werden - zum Beispiel die der Pendler von Landkreis zu Landkreis. Denn auch auf diesem Weg reist der Erreger weiter.
Die beiden Physiker hoffen, dass ihr Modell der effektiven Entfernung nicht nur bei Pandemien genutzt werden kann, sondern für andere Netzwerkphänomene - etwa die Ausbreitung von Gerüchten oder Gewalt in der Gesellschaft.