Hightech-Doping Olympia der Wundermittel

Die ersten Doping-Fälle der olympischen Spiele sind bereits aktenkundig. Mit immer raffinierteren Techniken tunen Mediziner die Maschine Mensch auf Höchstleistung. Eines Tages könnten Athleten sogar mit Gentechnik auf Sieg programmiert werden.
Von Tobias Hürter und Hanno Charisius

Das Schaulaufen der Biomaschinen startete am ersten Juli-Samstag in Lüttich. Jede Minute rollt ein hoch trainierter Ausdauerathlet auf dem Zeitfahrrad die Holzrampe hinunter, um die ersten sechs Kilometer der Tour de France in Angriff zu nehmen. Mit 190 Schlägen pro Minute pumpt sein Herz Brennstoff und Sauerstoff in die drallen Oberschenkelmuskeln, dort schnellt der Energieumsatz auf das 200-fache des Ruhezustands.

Starke Fahrer stemmen sich mit einer durchschnittlichen Leistung von 500 Watt in den Fahrtwind - untrainierte Männer schaffen nicht einmal halb so viel. Um nach Kurven wieder auf Tempo 60 zu beschleunigen, treten manche Athleten gar mit einer vollen Pferdestärke in die Pedale.

Es gab in diesem Sommer bereits ausgiebig Gelegenheit, das Leistungsvermögen des menschlichen Organismus zu bewundern: bei den EM-Fußballern in Portugal und den Radfahrern der Höllentour durch Frankreich. Die meisten Spitzenathleten wird es jedoch bei der Olympiade in Athen zu bestaunen geben.

Monate und Jahre im Voraus konditionieren tausende Sportler ihre Sehnen, Bänder und Muskeln, Herz, Lunge und motorische Nervenzentren punktgenau für die großen Wettkämpfe. Sie nutzen die enorme Anpassungsfähigkeit ihrer Physis. Mit dosiertem Druck gewöhnen sie den Körper an immer intensivere und längere Belastungen - und leider zwingen sie ihn allzu oft mit verbotener Chemie über seine natürlichen Leistungsgrenzen hinaus. Im Zeitalter der Molekularbiologie macht sich die Wissenschaft sogar an den scheinbar unwandelbaren Startvoraussetzungen der Athleten zu schaffen: am Erbgut.

Sportprofis leben von den Leistungsreserven, mit denen die Natur den Menschen für Ausnahmesituationen, in denen es um Leben und Tod geht, ausgestattet hat. "Der Mensch ist eigentlich nicht als Hochleistungsmaschine geschaffen", sagt Bengt Saltin, Leiter des Kopenhagener Muskelforschungszentrums, "sondern für sanfte Belastungen wie langsames Gehen." Das zeigt schon ein erster Blick ins Körperinnere: "Pferde und Hunde haben im Vergleich zu ihrer Körpermasse ein doppelt so großes Herz".

Die Kernfrage der Leistungsphysiologie sorgt seit Jahrzehnten für Kontroversen: Welche Faktoren genau sind es, die der menschlichen Leistung ihre Grenzen setzen? Klar ist, dass die Antwort von der Art der Belastung abhängt. Aber auch bei gleichen Anforderungen widersprechen sich die Experten. Bengt Saltin folgert aus Studien an hoch trainierten Skilangläufern, die er mit schwedischen und spanischen Kollegen durchführte, dass die Pumpkapazität des Herzens die Körperleistung limitiert - jedenfalls bei Bewegungen, an denen alle vier Gliedmaßen beteiligt sind.

Die Kleinherzigkeit hat durchaus ihren Sinn: Eine größere Pumpe würde wertvolle Energie verschwenden. Die große Stärke des menschlichen Körpers nämlich ist seine Ökonomie. Zwar können Radprofis bei der Tour de France auf harten Bergetappen 9000 Kilokalorien verbrauchen - mehr als den dreifachen Tagesbedarf eines gemäßigt sportlichen Mannes. Aber diese Energie entspricht gerade mal dem Brennwert eines Liters Benzin oder Diesel. Ein Auto käme damit bestenfalls zur nächsten Tankstelle.

Die Untersuchung von Bengt Saltin und seinen Kollegen offenbart einen Schwachpunkt der Maschine Mensch und legt damit einen Angriffspunkt für Dopingmittel nahe: "Die ideale Substanz würde die Pumpleistung des Herzens verbessern", sagt Saltin. Und so lange sich die Blutpumpe selbst nicht chemisch tunen lässt, verbessern die Athleten eben die Transportkapazität ihres Bluts: Sie spritzen sich das Nierenhormon Erythropoietin (besser bekannt unter der Abkürzung Epo) in die Venen, um die Ausschüttung von Hämoglobin und die Bildung von roten Blutkörperchen im Knochenmark zu stimulieren.

Kein Wirkstoff hat den Profisport in den letzten Jahren mehr verändert als Epo. Bis zu Beginn der Neunzigerjahre konnten auch saubere Fahrer bei den großen Radrennen noch um den Sieg mitfahren - aussichtslos, sobald die Beine der Rivalen den für Epo-Blut charakteristischen Bronzeton annahmen. Heute gelten nur noch wenige Fahrer im Profi-Peloton als wirklich "clean".

Und weil Epo neben dem Sauerstofftransport auch die Laktattoleranz erhöht, nehmen es nicht nur Ausdauersportler. In einem Doping-Prozess wurde der Vorwurf des Epo-Missbrauchs gegen zehn Spieler des italienischen Fußball-Rekordmeisters Juventus Turin laut. Auch unter Tennisprofis ist Epo weit verbreitet, ließ der frühere Weltranglisten-Erste Jim Courier durchblicken.

Wer mehr Hämoglobin im Blut haben möchte, als ihm die Natur zugestanden hat, kann sich die Zellen statt über Epo direkt von Spendern besorgen. Zugeführtes Hämoglobin, von Schweinen, Rindern oder künstlich hergestellt, bindet mehr Sauerstoff ans Blut. Die Wirkung dieser Art von Blutdoping hat der Anatom Hans Hoppeler von der Universität Bern am eigenen Leib erfahren - als einer von acht Probanden einer Studie. Nach der Verabreichung von zwei Einheiten Eigenblut stieg Hoppelers Hämatokritwert (der Anteil roter Blutkörperchen am Blut) um zwei Prozentpunkte. Dadurch stieg die Leistung bei einer halben Stunde Treten auf dem Fahrradergometer um etwa sechs Prozent. Radprofis spritzen ihre Hämatokritwerte regelmäßig um sieben Prozentpunkte und mehr nach oben.

Nicht alle Sportphysiologen teilen Bengt Saltins Sicht des Herzens als Leistungsbremse. "Warum sollte so weit oben im Energiefluss ein Engpass eingebaut sein?", fragt Wolfgang Stockhausen, der seit vielen Jahren Radprofis betreut. Er erkennt den wichtigsten Leistungshemmer weiter stromabwärts: die Übersäuerung des Stoffwechsels. Da fügt es sich für Ausdauerathleten, dass ihr Wundermittel Epo auch gegen saure Muskeln hilft. "Epo bewirkt viel mehr als die Bildung roter Blutkörperchen", sagt Stockhausen. Vor allem stimuliert es die Bildung so genannter Laktatpuffer, die den pH-Wert abfangen, wenn das anaerobe Notaggregat anspringt. Gerade Hämoglobin sei ein sehr effektiver Laktatpuffer. Stockhausen: "Das ist der wahre Grund, weshalb die Renner Epo nehmen. Die Vermehrung der roten Blutkörperchen ist eher ein unerwünschter Nebeneffekt."

Dabei kann der Körper über einen erstaunlich weiten Bereich an Herausforderungen wachsen. "Der Körper ist nicht für bestimmte Aufgaben optimiert wie eine menschengebaute Maschine", sagt der Biomechaniker Ansgar Schwirtz, "er optimiert sich selbst für immer neue Aufgaben." Wird ein Muskel regelmäßig auf Schnelligkeit gefordert, passt sich seine neuronale Ansteuerung an. Wiederholte Ausdauerbelastungen vermehren und vergrößern die Mitochondrien.

Woher wissen die Muskeln so genau, wie sie sich anzupassen haben? Warum wachsen Kraftsportlern massige Muskeln, Leichtathleten schlanke? Warum haben Sprinter besonders viele schnell zuckende "weiße" Fasern, Marathonläufer dagegen langsame "rote" Fasern, die besonders gut mit Sauerstoff versorgt und dicht mit Mitochondrien besetzt sind?

Lesen Sie in Teil zwei, ab wann Gen-Doping eingesetzt werden könnte

Diese Rätsel sind noch nicht komplett gelöst. Offenbar antworten die feinfühligen Muskelzellen auf mechanische Reize (etwa Dehnung) und Änderungen des Stoffwechselmilieus (etwa des pH-Werts) mit der Aktivierung jeweils passender Botenstoffe aus der Gruppe der Mitogen-aktivierter Protein-Kinasen.

Für schnelle Reparaturarbeiten kurbeln bestimmte Enzyme, so genannte MAP-Kinasen, die Eiweißsynthese an, aber sie schalten auch Gene ein und aus und bestimmen so die längerfristige Entwicklung des Gewebes. Detaillierte Erkenntnisse über diese Mechanismen "könnten die Möglichkeit pharmakologischer Eingriffe eröffnen", sagt der Molekularphysiologe Michael Rennie von der University of Dundee in Schottland.

Dabei wären gezielte Eingriffe in den Enzymhaushalt nur ein Zwischenschritt zur kühnsten Vision der Körperkonstrukteure: Die Werkzeuge der Gentechnik könnten künftige Athleten auf Sieg programmieren. So kennt man das Gen, das Erythropoietin codiert. Forscher der University of Chicago verpackten das Epo-Gen in Viren und spritzten es Affen, worauf deren Hämatokritwert monatelang auf lebensbedrohliche 70 Prozent stieg.

Eine besser kontrollierbare Wirkung versprechen die Versuche von Zurab Siprashvili und Paul Khavari von der Stanford University. Die beiden Biologen injizierten das Epo-Gen per Virus in menschliche Haut, die sie auf Mäuse pflanzten, und regten so die Blutbildung der Tiere an. Vor das Epo-Gen hängten sie ein Regulatorgen, das sie mit einer speziellen Hautcreme aktivieren konnten.

Wenn die Wirkung der Salbe verfliegt, stellt auch das Epo-Gen seine Tätigkeit ein. Ein Betrugsversuch nach diesem Prinzip wäre einem Sportler schwerlich nachzuweisen. "Noch ist Gendoping zu kompliziert und unkalkulierbar für die Athleten und ihre Betreuer", meint Muskelforscher Saltin, "aber für die Olympischen Winterspiele 2006 können wir damit rechnen."

Ein Leistungsmerkmal immerhin schien bis jetzt unerreichbar für die Chemie: die Geschicklichkeit. Wie sollte man das Ballgefühl eines Luis Figo oder den flüssigen Tritt eines Lance Armstrong mit mehr als 110 Umdrehungen pro Minute als Pille schlucken oder per Spritze injizieren? Ganz so absurd ist dieser Gedanke nicht.

So forscht der Neurologe Ulf Ziemann von der Universität Frankfurt an Substanzen, die dem motorischen Exekutivorgan in der Gehirnrinde zu mehr Lernfähigkeit verhelfen. So genannte Neuromodulatoren, etwa Gegenspieler der Hormone Dopamin und Noradrenalin, haben diese Wirkung in ersten Tests bereits gezeigt: Das Training von Daumenbewegungen schlug bei Probanden unter Neuromodulatoren messbar schneller an. Ziemann sieht seine Wirkstoffe im Dienst der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten. "Aber auch bei Sportlern ist es denkbar", sagt er, "das motorische System auf solche Weise zu unterstützen."

Auch das Blutdoping scheint noch nicht ausgereizt. Immer wieder berichten Insider vom Missbrauch noch potenterer "Blood booster" wie Nesp, Dynepo, und perfluorierten Kohlenwasserstoffen. Es wäre nicht das erste Mal, dass fragwürdige Substanzen den direkten Weg aus dem Labor in den Athletenkörper finden.

Beim italienischen Radstar Dario Frigo entdeckten Polizisten während des Giro d'Italia 2001 den synthetischen Sauerstoffträger Hemassist, den sein Hersteller Baxter nach rätselhaften Todesfällen in der Erprobung aus dem Zulassungsverfahren gezogen hatte. Solche Funde offenbaren die ganze Misere des chemiegetriebenen Sports: Er ist zu einem Wettrüsten geraten, das seine Protagonisten immer tiefer in die Dunkelheit treibt. Doping macht keine Sieger, aber viele Verlierer.


© Technology Review , Heise Zeitschriften Verlag, Hannover

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