Indien und Pakistan Atomkrieg hätte weltweite Hungerkatastrophe zur Folge

Pakistanische Shaheen-Rakete: Dauerkonflikt mit dem Erzrivalen Indien
Foto: STR/PAKISTAN/ ReutersSeit dem Ende des Kalten Krieges scheint die westliche Welt die Angst vor einem Atomkrieg weitgehend verloren zu haben: Die Gefahr, dass Ost und West ihre gigantischen Nukleararsenale gegeneinander einsetzen und der Zivilisation ein Ende bereiten, war zwar real - doch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs scheint sie gebannt.
Allerdings: Dass Atomwaffen heute tatsächlich eingesetzt werden, halten Experten für deutlich wahrscheinlicher als im Kalten Krieg. Als Hotspot Nummer eins gilt in dieser Hinsicht der Dauerkonflikt zwischen Indien und Pakistan: Nirgendwo sonst in der Welt wachsen die nuklearen Arsenale so schnell, nirgendwo sonst ist die Gefahr größer, dass sie in die Hände von Fanatikern fallen.
Ein Atomkrieg in der Region hätte globale Konsequenzen - das haben in den vergangenen Jahren mehrere Studien gezeigt. Doch neue Forschungsergebnisse besagen nun, dass die möglichen Gefahren noch unterschätzt wurden. Die jüngste Überblick kommt von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Er besagt, dass zwei Milliarden Menschen von Hungersnöten bedroht wären, sollte es zu einem Atomkrieg zwischen Pakistan und Indien kommen.
Der Report ist im April 2012 zum ersten Mal mit fast identischem Titel erschienen - nur dass damals von einer und nicht von zwei Milliarden Menschen die Rede war. Den enormen Anstieg erklären die Autoren um den US-Mediziner Ira Helfand damit, dass man zuvor die Wirkung auf die Ernährungslage in China unterschätzt habe.
Schon 2012 waren die Wissenschaftler davon ausgegangen, dass die Reisproduktion in China in den ersten vier Jahren nach dem Krieg um durchschnittlich 21 Prozent fallen würde. Doch neue Berechnungen hätten gezeigt, dass nicht nur die Einbußen bei der Reisproduktion mit 24 Prozent stärker wären als zuvor angenommen. Der Ausstoß von Mais würde um 24 Prozent, der von Weizen gar um 50 Prozent sinken. Dadurch wären in China rund eine Milliarde Menschen, also drei Viertel der Bevölkerung, vom Hunger bedroht, schreiben Lili Xia von der Rutgers University in New Brunswick (US-Staat New Jersey) und ihre Kollegen.
100 Hiroshima-Atombomben
Die erste aufsehenerregende Studie über die Folgen eines regionalen Atomkriegs haben die US-Forscher Owen Toon und Alan Robock 2006 veröffentlicht. Ihr Szenario wurde danach in diversen Studien benutzt, auch im neuen IPPNW-Report: Indien und Pakistan zünden insgesamt 100 Atombomben mit einer Sprengkraft von jeweils 15 Kilotonnen TNT, was in etwa der Stärke der Hiroshima-Bombe entspricht.
Auf einen Schlag würden viele Millionen Menschen sterben - obwohl beide Länder nicht einmal die Hälfte ihrer nuklearen Arsenale eingesetzt hätten. Aus den brennenden Städten würden laut den Berechnungen Millionen Tonnen Ruß bis in die Stratosphäre steigen. Erst triebe die enorme Hitze großflächiger Feuersbrünste den Dreck in die Höhe, anschließend würden die dunklen Partikel von der Sonne erhitzt und in Höhen von bis zu 60 Kilometer weitergetragen, wo sie sich über den gesamten Globus verbreiteten. Durch die Abdunkelung des Sonnenlichts würde sich die Erde deutlich abkühlen.
Dieses Ergebnis früherer Studien wurde erst im Oktober von einem Team um Andrea Stenke von der ETH Zürich bestätigt. Die Schätzungen über die Rußmengen, die bei einem Atomkrieg in die Atmosphäre gelangten, seien in den früheren Studien sehr unsicher gewesen, so die Forscher. Um die Klimawirkung zu berechnen, nahmen sie deshalb nicht nur das gängige Szenario mit einer Freisetzung von fünf Millionen Tonnen Ruß, sondern auch weitere mit Mengen von einer bis zwölf Millionen Tonnen. Zudem wandten sie ein anderes Computermodell an als Robocks Team.
Das Ergebnis war dennoch ähnlich: "Insgesamt stützt diese Studie die früheren im Hinblick auf die Wirkung in der Atmosphäre", schreiben Stenke und ihre Kollegen im Fachblatt "Atmospheric Chemistry and Physics" .
Starke Abkühlung auf Jahre hinaus
Demnach läge die globale Durchschnittstemperatur bei einer Freisetzung von fünf Millionen Tonnen Ruß noch drei Jahre nach dem Krieg um 1 bis 1,5 Grad unter dem Normalwert. Zum Vergleich: In der "Kleinen Eiszeit" von 1500 bis 1850 sowie nach dem Ausbruch des Tambora von 1815 kühlte sich die Luft jeweils nur um ein halbes Grad ab. Dennoch kam es in beiden Fällen zu verbreiteten Ernteausfällen und Hungersnöten.
Die Studie von Stenkes Team verdeutlicht noch einen weiteren, zuvor weniger beachteten Effekt: kurze Kälteperioden. "Sie würden wahrscheinlich noch zur Stärke des menschlichen Leides beitragen", schreiben die Forscher. Auch hier dient der Tambora-Ausbruch als Beispiel. Die nordöstlichen USA und Kanada waren 1816 von Missernten besonders schwer betroffen, obwohl die Durchschnittstemperaturen nicht besonders ungewöhnlich waren. Doch vier heftige Kältewellen im Sommer genügten, um große Teile der Ernte zu vernichten.
Auch das wäre noch nicht alles. Stenke und ihre Kollegen bestätigen frühere Studien auch darin, dass ein regionaler Atomkrieg die Ozonschicht stark schädigen würde - in nördlichen Breiten etwa würde sie glatt halbiert. Zudem würden Niederschläge deutlich zurückgehen, und das fünf bis zehn Jahre lang. Der Grund: Die kühleren Temperaturen lassen weniger Wasser verdunsten, so dass der globale hydrologische Zyklus geschwächt wird.
"Die globale Temperatur- und Niederschlagsänderung ist ähnlich derjenigen, die als Folge eines Supervulkan-Ausbruchs simuliert wurde: Rapide globale Abkühlung und allmähliche Erholung innerhalb von 10 bis 20 Jahren", sagt Erich Roeckner vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie. Ähnliches, aber mit weit geringerer Amplitude, sei auch nach dem Ausbruch des Pinatubo 1991 beobachtet worden.
Verheerende Folgen für die Lebensmittelmärkte
Die Folgen für den globalen Nahrungshandel dürften verheerend sein. "Die Lebensmittelsysteme sind heutzutage derart eng miteinander verwoben, dass große systemische Schocks bedeutende Probleme auslösen", sagt Koko Warner, die an der Universität der Vereinten Nationen in Bonn die Abteilung für Umweltmigration und Anpassung an den Klimawandel leitet. "Schon eine zweiwöchige Hitzewelle in den USA kann sich dermaßen auf die Lebensmittelpreise auswirken, dass es anderswo zu Hungerunruhen kommt." Besonders stark betroffen seien Regionen, in denen die Nahrungsversorgung ohnehin schon unsicher ist.
Wie viele Menschen als indirekte Opfer eines Atomkriegs in Südasien umkommen würden, lässt sich kaum abschätzen. Es müsse noch genauer erforscht werden, welche Folgen das Absinken der Getreideproduktion für die Ernährung der Menschen in den betroffenen Gebieten habe, betonen Helfand und seine Kollegen. Doch nach Meinung des Hamburger Klimaforschers Jochem Marotzke habe eine Aussage weiterhin Bestand: "Die indirekten Folgen eines solchen Atomkriegs wären gravierender als die direkte Auswirkung von Explosionen, Bränden und Strahlung."